logo Fundación Gustavo BuenoFundación Gustavo Bueno

VI
Die Philosophie der Suarez-Schule als normale Universitätsphilosophie des siebzehnten Jahrhunderts

Karl Eschweiler: “Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den deutschen Universitäten des siebzehnten Jahrhunderts” (1928)




§ 19. Der Aristotelismus der italienischen Renaissance ist die wichtigste Vorbedingung sowohl für die Entstehung der spanischen Spätscholastik wie für die Vorherrschaft ihres jesuitischen Zweiges in der Universitätsphilosophie des siebzehnten Jahrhunderts. Die letzten [303] Auflagen des Ueberweg (II. u. III. Band) zeigen, wie wenig das reiche philosophische Leben, das von der Mitte des fünfzehnten bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts besonders in Padua und Bologna geblüht hat, bisher erforscht worden ist. Bei Fonseca, den Conimbricenses und Suarez sind nicht wenige italienische Philosophen zitiert, von denen dort nicht einmal die Namen genannt werden. Aber schon das Wenige, das vom Renaissance-Aristotelismus bekannt ist, genügt, um auch dort an Italien denken zu lassen, wo die Fonseca, Conimbricenses und Suarez nicht zitieren{86}. Nun haben die Untersuchungen Tröltschs, Webers und neuerdings vor allem Petersens ans Licht gebracht, in welchem Umfange gerade die Logik der italienischen Renaissance auf die protestantischen Dialektiker des Reformationsjahrhunderts eingewirkt hat. Jacob Zabarella bleibt bis in die Literatur des siebzehnten Jahrhunderts hinein der am häufigsten zitierte Italiener. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Lösungen, die das Problem der Verstandeserkenntnis, des Verhältnisses von Leib und Seele, von Sinnlichkeit und Verstand bei den Conimbricensern und bei Suarez gefunden, den Thesen des Zabarella in merkwürdiger Weise parallel gehen. Bevor die philosophiegeschichtlichen Ursprünge der spanischen Spätscholastik im einzelnen auseinandergelegt sind, muss angenommen werden, dass die Instrumentallogik des Zabarella eine unmittelbare und wichtige Vorbedingung des praktischen Intellektualismus der Jesuitenschule ist. Jedenfalls ist in dieser inneren Verwandtschaft zwischen Zabarella und Suarez ein weiteres Moment zu sehen, das die Aufnahme der Disputationes metaphysicae auf den protestantischen Universitäten begünstigt hat. Diese Metaphysik kam als etwas Neues, aber nicht als etwas Fremdes: Sie ist als Erfüllerin schon vorherrschender Denktendenzen rezipiert worden.

Es gibt nur wenige Philosophen im protestantischen Deutschland, die sich der Nachfolge der suarezischen Metaphysik entzogen haben. Außer Nikolaus Taurellus († 1606), dessen eigenartige «christliche» Philosophie wie ein erratischer Block in der Zeit daliegt, nennt Petersen noch folgende, die einen unabhängigen und rein aus den Quellen schöpfenden Aristotelismus gelehrt haben sollen: Daniel Cramer († 1637 als Pastor in Stettin) und Christian Dreier († 1688 als Hofprediger in Königsberg). Was aber Petersen von ihrer Philosophie mitteilt, ermöglicht kein Urteil darüber, ob sie die lateinisch-spanische Interpretation des Aristoteles aus selbständigem Philosophieren oder [304] bloß einer humanistischen Philologie zuliebe abgelehnt haben{87}. Anders steht es jedoch mit den Philosophi Altdorfini: Philipp Scherb († 1605) und seinen beiden Schülern Ernst Soner († 1612) und Michael Piccart († 1620). [305] «Auch in Altdorf ging man Aristoteles selbst nach, hütete sich aber im Gegensatz zu Cramer, Taurellus und Dreier keineswegs vor der Benutzung zeitgenössischer und scholastischer Ausleger» (Petersen). Es wäre sehr lehrreich, dem Verhältnis der kleinen Altdorfer Schule zu der spanischen Spätscholastik im einzelnen nachzugehen. Soweit das Referat Petersens erkennen lässt, haben nämlich die Altdorfer die Schulphilosophie der Jesuiten weder bloß auf genommen noch weitergeführt, sondern in den entscheidenden Fragen abgelehnt. Weber urteilt über die historische Stellung dieses Aristotelismus: «Die Altdorfer standen ganz unter dem Einfluss der Italiener»{88}. Das ist sicher dahin einzuschränken, dass die Dialektisierung der Metaphysik durch Zabarella von den Altdorfern nicht rezipiert worden ist; denn Petersen hat es geradezu als Kennzeichen der kleinen Schule herausgestellt, die propädeutische Dialektik von der eigentlichen Logik zu unterscheiden und den streng epistemischen (spekulativen) Charakter der letzteren zu betonen. Beachtet man neben dieser damals in Deutschland vereinsamten Stellungnahme die auffallende Schärfe, mit der sich der Meister der Schule, Philipp Scherb, gegen die Einbeziehung der Kategorienlehre in die Metaphysik (d. i. die Vermengung des metaphysischen mit dem logischen Formalobjekt) ausgesprochen hat, dann wird schon deutlicher, welche Italiener die wirklichen Autoritäten und Vorbilder dieses Aristotelismus sind{89}. [306]

v. Elswich ist es wieder, der uns eine wichtige Äußerung Michael Piccarts über seinen hochverehrten Meister Scherb aufbewahrt hat: «Imprimis Pellegrinum audivit, cujus Metaplaysicam ex docentis ore excepta cum nemine, ut erat invidus, communicavit, sed tantopere occultavit, ut Gryphes non in aurum suum custodiant, ut ille suum Pellegrinum». Weber hat schon bemerkt, dass dieser Pellegrinus «wohl der (Dominikaner) Th. Peregrinus in Padua» gewesen sei{90}. Sichere Auskunft kann nur eine ideengeschichtliche Untersuchung des Schrifttums der Altdorfer Schule geben; aber schon jetzt darf es als wahrscheinlich hingestellt werden, dass die Ausnahmestellung, welche diese Schule aus der philosophischen Bewegung beim Beginn des siebzehnten Jahrhunderts heraushebt, nicht zuletzt durch den Einfluss einer genuin thomistischen Tradition bedingt sein wird. Das passt auch ganz zu dem zeitpolitischen Schicksal der Altdorfer Philosophie: Sie hat ebenso wenig wie der Thomismus der spanischen Spätscholastik den Entwicklungsgang des neuzeitlichen Philosophierens maßgebend bestimmt; weil sie gleich diesem dem Zug des neuen Geistes nicht entsprochen hat.

§ 20. Die Schulphilosophie der Gesellschaft Jesu, deren großartiger Wirksamkeit in der pädagogischen und pastoralen Praxis es vorzüglich zu danken ist, dass die Mutterkirche in Deutschland Boden behielt, ist das Werkzeug gewesen, womit der neuzeitliche Katholizismus weit über die Grenzen der sogenannten Gegenreformation hinaus erobernde Kraft bewiesen hat. Die Tatsache, dass diese Philosophie nicht nur auf den Kathedern, die von den Jesuiten selbst besetzt waren, sondern während und nach dem Dreißigjährigen Kriege auf fast allen deutschen und holländischen Lehrstühlen für den philosophischen Schulbetrieb maßgebend [307] gewesen ist, mag prima vista «auffallend genug» erscheinen. Sie ist aber im Grunde ebenso auffällig und auch ebenso natürlich wie die Tatsache, dass sich gleichzeitig oder kurz darauf die hohen Kirchen der Backsteingotik bis an die Ostseeküste hin mit den pompösesten Barockstücken geziert haben. Der praktische Intellektualismus der Jesuitenschule und ihre Begriffswesen-Metaphysik war gerade durch die Maßhaltung, die ihr durch die katholisch-theologische Überlieferung ermöglicht wurde, ganz dazu angetan, Grundriss und Regel jenes letzten kontinental-europäischen Denkstils zu werden, ehe dieses Denken in das bunte Spiel antithetischer Privatsysteme zerfiel. Es ist eine wohl mit Vorsicht zu befolgende, aber an sich gut begründbare Gewohnheit geworden, den besonderen Charakter von Kulturepochen mit dem Namen des in ihr herrschenden Stils der monumentalen Kunst zu bezeichnen. So ist es auch gerechtfertigt, das Eigentümliche in der Denkweise des Suarez und seiner Schüler: Hurtado de Mendoza, Arriaga, Oviedo als «Barockscholastik» zu denominieren; nur ist dabei zweierlei zu beachten: Zunächst darf diese von der Kunst hergenommene Bezeichnung nicht so verstanden werden, als solle damit vorzüglich die äußere Darstellungsweise der genannten Philosophen bezeichnet werden; sie ist ihnen nur in einzelnen Zügen vor der übrigen Scholastik des Barockzeitalters eigentümlich. Hier handelt es sich nämlich nicht um den Schreibstil, sondern um einen Denkstil, d. i. um die in der damaligen Logik und Metaphysik vorherrschenden Prinzipien. Sodann ist zu beachten, dass der Name Barockscholastik noch kein Urteil über den Wahrheitswert der so benannten Doktrin enthält; glücklicherweise ist die abschätzige Bedeutung, die das Wort barock von früher her hatte, im Schwinden begriffen.

In welchem Maße sich die Vorherrschaft der jesuitischen Schulphilosophie zu dem echten philosophischen Denkstil des siebzehnten Jahrhunderts befestigt hat, ist am deutlichsten aus dem Schrifttum zu erkennen, worin sich der philosophische Betrieb an den Universitäten am spontansten und unmittelbarsten ausgedrückt hat: in den akademischen Promotionsthesen. Auf zwei Beispiele, die durch den Namen des Promovenden bzw. des Promotors hervorragen und darum auch allgemein zugänglich sind, sei hier aufmerksam gemacht. Es handelt sich um den berühmten Polyhistor und Juristen von Helmstedt Hermann Conring und um Leibniz, den größten Abiturienten, den die Schulphilosophie des Barockzeitalters hervorgebracht.

Hermann Conring (1606-1681) hatte in Helmstedt studiert zu der Zeit, wo Cornel Martin und Conrad Horn (Hornejus) die scholastisch aristotelische Metaphysik gegen ramistische und gefühlsmäßige Proteste zu verteidigen hatten. Er promovierte 1629 in Leiden mit Thesen: De morali prudentia unter Franco Burgersdijk. Seit 1632 dozierte Conring in Helmstedt und beschäftigte sich gleich mit dem [308] damals so beliebten Problem der allgemeinen Wissenschaftslehre. Im Jahre 1635 ließ er De unitate et distinctione scientiarum disputieren; die Thesen dieser Disputation sind in seinen opera omnia abgedruckt zu finden{91}. In These II wird die Schwierigkeit des Gegenstandes bezeugt durch die Conimbricenses und durch «Hornejus, qui etiam ex Suarezio hanc affert rationem, quod radix et modus unitatis habituum occultus nobisque cognitu difficilis sit.» Nachdem in These III das Thema dahin spezifiziert ist, dass die Frage auf das Ganze (totum) der einzelnen Wissenschaften, also nicht auf ihre numerische, sondern auf ihre spezifische und generische Einheit bzw. Verschiedenheit gerichtet sei, und zudem nur die spekulativen (= theoretischen) Disziplinen im Auge habe, bringt die These IV die Haupt-Antithese der Disputation: Es gebe nur eine einzige Wissenschaft des Seins; Physik, Metaphysik, Mathematik (in dieser Reihenfolge!) seien weniger spezifisch verschiedene Wissenschaften als vielmehr Teile einer einzigen Universalwissenschaft, ebenso wie etwa die Lehre von den Tieren, Pflanzen und Metallen nur Teile der einen «Physiologie» seien. Als Hauptvertreter dieser Antithese wird Antonius Mirandolanus genannt, «ut citatur a Suaresio et Benedicto Pererio». In der fünften, sechsten und siebten These werden aus Toletus, Conimbricenses und Suarez einige sed contra der Behauptung des Mirandolanus entgegengestellt und in der achten bis zwölften These dessen Argumente dialektisch widerlegt. In N. XIII erscheint endlich die eigene These des Disputanten, soweit die unitas scientiarum in Frage kommt. Die spezifische Einheit einer Wissenschaft könne, so heißt es da, nach der allgemein herrschenden Ansicht nicht in der Einfachheit ein und desselben Wissenshabitus, sondern nur in der coordinatio oder aggregatio vieler Teilhabitus zu einem Totalhabitus bestehen. Ein (dem bejahten Objekt) äußerer Zustimmungsgrund, «cujusmodi est in fide tam infusa quam acquisita»{92}, kann freilich als einer und einziger auf verschiedene Materien angewandt werden; anders ist es aber in der Wissenschaft, wo das Objekt selbst den Grund der Bejahung liefert. Diese Habitus-Lehre ist, wie übrigens sauber zitiert wird, der Disputatio 44 De habitibus des Suarez entnommen: ein Zitat aus Zabarella [309] fügt sich ohne weiteres in diesen Zusammenhang ein. In den Thesen XIV und XV wird dann eine Schwierigkeit aus S. Thomas erhoben. Dieser soll nämlich –«hanc enim sententiam Conimbricenses ei tribuunt»– lehren, dass der habitus scientiae bei aller dem menschlichen Erkennen wesentlichen Diskursivität keine bloße aggregatio vieler Teilhabitus, sondern ein einfacher Habitus sei, weil bei dem Fortschreiten von dem einen zum folgenden Urteil nicht jedesmal ein neuer Habitus entstehe, sondern ein und derselbe sich vielmehr ausdehne und vervollkommne. «Sed recte negat Suarez loco toties a nobis adducto etc.»

Diese Helmstedter Disputation aus dem Jahre 1635 zählt im ganzen neunundzwanzig Thesen; das Referat über ihren ersten Teil wird genügen, um die unmittelbar schulmäßige Wirksamkeit der Schulphilosophie der Gesellschaft Jesu erkennen zu lassen{93}. Der philosophische Unterricht an der Universität Helmstedt ist von den Cornel Martini, Conrad Horn, Georg Calixt und Hermann Conring inhaltlich durchaus nach dem Muster der Conimbricenses und Suarezianer erteilt worden; das bisschen Aristoteles-Philologie hat sich mit solchen Mustern wohl vertragen. Dabei ist zu bemerken, dass Conring in dem politischen Kampfe gegen die Jesuiten ein Hauptführer der Protestanten gewesen ist; und er hat sich, wie seine Streitschriften beweisen, weit über die normal protestantische Jesuitenscheu hinaus fortreißen lassen{94}.

§ 21. Die «Disputatio metaphysica De Principio individui», womit Leibniz im Jahre 1663 in Leipzig unter Jacob Thomasius zum Baccalaureat promoviert hat, ist schon öfter berührt worden, sowohl in den zusammenhängenden Abhandlungen über die Entwicklung der Leibnizischen Philosophie, wie auch in den eingangs erwähnten Spezialuntersuchungen über das Thema Leibniz und die Scholastik. Das allgemeine Urteil geht dahin, Leibniz zitiere eine erstaunlich große Anzahl scholastischer Autoritäten; aber von dem Siebzehnjährigen könne natürlich keine eindringende Kenntnis und vor allem kein sachliches Urteil in dem angeschnittenen Problem der scholastischen Metaphysik erwartet werden. Merkwürdigerweise ist diese Promotionsschrift bisher noch nicht unter dem Gesichtspunkt betrachtet worden, ob und wieweit sich daraus feststellen lasse, welche von den vielen scholastischen Richtungen alter und neuerer Zeit den philosophischen Unterricht an der Leipziger Universität maßgebend bestimmt hat; oder ob dort nur ein scholastischer Eklektizismus gelehrt worden ist. [310] Die beiden Lehrer Leibnizens Joh. Adam Scherzer († 1683) und Jacob Thomas († 1684) sind zwar durch Petersen eindeutig in ihrer philosophiegeschichtlichen Stellung bestimmt; sie gehören zu der Schule des Daniel Stahl aus Jena, dessen philosophische Abstammung schon in der oben erwähnten Rede des Val. Velthemius angedeutet ist{95}. Doch die Leipziger Disputation verdient schon um des Schülers willen eine kurze Betrachtung unter dem besonderen Gesichtspunkt der Geschichte der spanischen Spätscholastik in Deutschland.

Sie weist in der Tat eine außergewöhnlich große Menge von Zitaten scholastischer Autoritäten auf. Es fragt sich nur, ob Leibniz bzw. seine Lehrer alle diese Scholastiker gelesen haben. Wer einigermaßen in der philosophischen und theologischen Barockliteratur bewandert ist, wird an dieser Frage keinen Anstoß nehmen. Bei vielen Zitaten ist schon aus der Zitierweise zu erkennen, dass sie anderen Büchern entnommen sind. Nur diese Quellen kommen natürlich in Betracht, wenn gefragt wird, welche Scholastik an der Leipziger Artistenfakultät gebräuchlich gewesen ist. Da ergibt sich zunächst, dass die Leipziger in der neuesten scholastischen Literatur auf dem laufenden waren. Der recentior Nominalis Schautheet wird als Quelle zitiert; es ist der belgische Augustiner Fulgentius Schautheet, dessen Controversiae philosophicae inter scholasticorum principes D. Thomam, Scotum et Gregorium Ariminensem erst im Jahre 1660 zu Antwerpen herausgekommen waren{96}. Das Thema bedingt die Heranziehung der Spezialliteratur über das Individuationsprinzip. Besonders zahlreich werden die Quellen angeführt, in denen [311] eine skotistische Individuationstheorie vertreten wird; das erklärt sich daraus, dass diese die eigentliche und am ausführlichsten abgefertigte Antithese der Disputation ist. Von den Thomisten ist nur Soncinas berücksichtigt, u. zw. offensichtlich nur darum, weil die thomistische Theorie überlieferungsgemäß unter den vier Lösungsversuchen des Individuationsproblems nicht gut fehlen konnte. Was die These der Disputation selbst angeht, so wird sie mit den Worten ausgedrückt: «Pono iritur, omne individuum sua tota Entitate individuatur». Das ist dem Sinne und den entscheidenden Termini nach dieselbe These, die Suarez in der fünften der Disputationes metaphysicae in einer ausgedehnten Auseinandersetzung mit den Thomisten, Skotisten und Nominalisten erarbeitet und zuerst in der sectio VI. daselbst mit denselben von Leibniz-Thomasius-Stah1 treu bewahrten Termini aufgestellt hatte. Übrigens figuriert der Name Suarez auch in der Liste der zustimmenden Autoritäten{97}.

Wo immer eine Stichprobe in die philosophische Literatur und in den philosophischen Schulbetrieb an den deutschen Universitäten gemacht wird, jedesmal bestätigt und festigt sich das Urteil, dass die Metaphysik der Suarezschule ungefähr seit 1620 bis 1690 die Gang-und-Gäbe-Philosophie gewesen ist. Das Neue hat sich wenigstens in Deutschland und Holland nur heimlich oder mit viel akademischem Geräusch über die rezipierte Suarez-Scholastik fortentwickeln können. Sie war eben die «philosophia recepta», wie es in den oben angeführten Erlassen der holländischen Universitäten heißt. Der Ausdruck bezeichnet gut die Wirksamkeit der in der italienischen Logik vorbereiteten und aus Spanien fertig herübergekommenen Metaphysik. Damals sollte anscheinend mit diesem Ausdruck nur das Offizielle und landläufig Normale dieser Philosophie bezeichnet werden. In diesern Sinne spricht Leibniz noch im Jahre 1698 von der recepta philosophia oder von der «recepta non minus quam vera philosophia{98}.

§ 22. Wenn sich aber bei Leibniz seit dem Jahre 1669 Klagen und Anklagen über die unnützen Spitzfindigkeiten der Scholastiker mehren, so darf das noch keineswegs als eine Abwendung von den Grundsätzen der Stahl-Suarez-Lehre, die er in Leipzig erlernt, angesehen werden. Der Lehrer Jacob Thomasius war darin dem Schüler mit Beispiel vorangegangen und hat trotzdem «nirgends mit der Überlieferung gebrochen»{99}. [312] Die Klage über unnütze Subtilitäten und über Vernachlässigung des aristotelischen Textes war damals allgemein und, was wichtig zu bemerken ist, sie kam am frühesten aus dem Munde der Jesuiten selbst die doch an allen anderen, nur nicht an den Prinzipien ihrer Schulmetaphysik zweifelten. Schon im Jahre 1612 wird in Ingolstadt über die Vernachlässigung des Aristoteles-Textes geklagt. Die oberdeutsche Provinz gab in ihren Kongregationen vom Jahre 1639 und 1649 dieser Unzufriedenheit mit dem philosophischen Schulbetrieb beschlussmäßigen und offiziellen Ausdruck. In der Versammlung vom Jahre 1649 wendet sich die Provinz sogar an die Generalkongregation der Gesellschaft Jesu (der neunten 1649-1650) mit dieser Liste von querimoniae:

«Nach der heutigen Methode werden Philosophie und Theologie nicht mit Rücksicht auf den öffentlichen Nutzen gelehrt; die vornehmsten Wissenszweige werden durch nutzlose und spitzfindige Fragen verwirrt. Die Theologie wird philosophisch, die Philosophie theologisch vorgetragen. Man bleibt bei kleinlichen und törichten Subtilitäten hängen. Was den Hörern wirklich nützt, wird als Quisquilie verachtet und übergangen. Die Autorität des Aristoteles und Thomas schwindet. Die Hörer bringen aus der Theologie kaum etwas mit, was der Kirche hilft, was dienlich ist zur Bekämpfung der Häresien, zur Verteidigung der Glaubenssätze, zur Predigt des göttlichen Wortes. Sehr groß ist die Klage der wirklich Gebildeten gegen diesen zu einem öffentlichen Übel sich auswachsenden Missstand. Ganze Ordensgenossenschaften, die uns früher gerne als Lehrer gehört, legen keinen Wert mehr darauf. Die Universitätsprofessoren drohen, die Professuren anderen zu übertragen, bei welchen die Hörer etwas lernen können. Da wir derlei täglich hören und sehen, so müssen wir die Generalkongregation bitten, wenn irgendwo, hier sorgfältig zuzusehen, dass die Gesellschaft in diesem [313] Punkte keinen Schaden leide, für den es bald keine Heilung mehr gibt»{100}.

Diese Unzufriedenheit der neuen, kaum zur Vorherrschaft gelangten Scholastik mit sich selber ist eine Tatsache, die zunächst philosophiegeschichtlich von der größten Wichtigkeit ist. Die innere Krisis ist damals nur als eine question de la méthode empfunden worden. Sie ging nicht tief genug und die Lösungsmöglichkeiten lagen zu leicht zur Hand, als dass sie zu einer Revision der dem praktischen Intellektualismus eigentümlichen Schulprinzipien geführt hätte. «Im wesentlichen» war alles gut; nur die methodische Anwendung ließ alles zu wünschen übrig. Nun ist aber die Methode einer Philosophie und einer spekulativen Theologie von ihren Prinzipien bedingt. Weder die neunte noch eine andere Generalkongregation hat sich natürlich zu dem unsinnigen Versuch hergegeben, einen philosophisch-theologischen Habitus principiorum durch Verordnungen ab- oder aufstellen zu wollen. So konnte die innere Krisis der Suarez-Schule, die um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts akut wurde, nur in zwei Richtungen gelöst werden. Entweder wurden die Prinzipien mitsamt der Methode und dem Inhalt nach der Maxime: Sint ut sunt konserviert und die Schule damit aus dem Vordergrunde der neuzeitlichen Bewegung zurückgeschoben; oder aber die Prinzipien drängten, da sie sich so breit in dem «objektiven Geist» der Epoche ausgewirkt hatten, von sich aus zu neuen Anwendungen. Der hier beabsichtigte Hinweis auf die ideengeschichtliche Bedeutung der spanischen Spätscholastik für die Entwicklung des spezifisch neuzeitlichen Denkens wäre allzu unvollständig, wenn nicht auch auf diese Fortbildungen des praktischen Intellektualismus der Jesuitenschule hingewiesen würde.

§ 23. Das gesamte zeitgemäße Denken des Barockzeitalters hatte sich zu der Universalienlehre des Suarez bekannt, wonach das allgemeine Wesen der körperlichen Dinge nicht das «Ersterkannte», sondern ein Produkt des menschlichen Verstandes sei. Die vom Verstande hergestellten conceptus objectivi bildeten also das Operationsfeld der spezifisch metaphysischen Spekulation. Diese Begriffsobjektivität war wie eine Netzgardine über die Natur der Dinge gespannt. Auf dieser mit den altaristotelischen Termini Sein und Nichts, Substanz und Akzidens, [314] Materie und Form, Potenz und Akt usw. besteckten Fläche konnten jene Metaphysiker freilich vieles feststellen, einsichtig demonstrieren; unendliche Kombinationsmöglichkeiten eröffneten sich und vor allem war es möglich, diese Objektivität in notwendigen Begriffsketten und evidenten Gewissheiten als Denkbesitz subjektiv anzueignen. Doch wozu nützte dieser Besitz? Es lag in den Prinzipien dieser Metaphysik, das Wesen der Erkenntnis als Begriffsproduktion aufzufassen; und in natura conceptuum ist notwendig gegeben, dass sie nur Mittel für etwas sind. So war es ein immanentes Gesetz der neuen Schullehre selbst, die Zweckmäßigkeitsfrage als entscheidende Lebensfrage auch an die metaphysische Spekulation zu stellen. Wir sahen oben, dass Suarez den rein spekulativen (theoretischen) Charakter der Metaphysik überhaupt nur als Defekt gegenüber der Theologie festhalten konnte. Waren nun die Klagen über unnütze und unpraktische Spitzfindigkeiten so allgemein geworden, wie sollte da die kaum statuierte Metaphysik aufrecht erhalten werden können? Denn es ist nicht zu erwarten, dass sie einfach außer Kurs gesetzt oder gänzlich aufgegeben wurde.

Die suarezische Metaphysik ist in ein neues Entwicklungsstadium hinübergerettet worden, und zwar auf zwei, innerlich zusammenhängende Weisen. Zunächst ist die Objektivität der conceptus objectivi bis zu einem gewissen Grade ihres metaphysischen Ansehens entkleidet und, soweit es möglich oder angängig erschien, auf die Fläche der mathematischen Gegenständlichkeit herabgesetzt worden. Sobald die für metaphysisch ausgegebene Gegenstandswelt, die bisher in den aristotelischen Termini Sein, Substanz, Form usw. aufgefasst wurde, als Zahlen und Figuren und Bewegungsgesetze verstanden und so über die Natur der Dinge ausgespannt wurde, da war zweierlei gewonnen: Es konnte weiter nach Lust kombiniert, hypothetisiert werden und dabei erwies sich diese Denkübung dennoch als eminent praktisch und nützlich. Jetzt war der Anschluss an die Naturbetrachtung der Renaissance gefunden, den die Conimbricenses um des überlieferten Aristotelismus willen nicht ganz vollzogen hatten. Nun erfüllte sich der praktische Intellektualismus nicht mehr in dem bloßen, so rasch als unnütze Spitzfindigkeit empfundenen Begriffsbesitz, sondern in der durch die mathematische Erklärung ermöglichten Beherrschung der materiellen Natur. Der andere, damit eng zusammenhängende Ausweg bestand darin, die suarezische Begriffswesen-Metaphysik entschlossen auf das ens rationis hinzurichten, und aus ihr eine Grund- und Generalwissenschaft über alles Wissen zu machen. Hier eröffnete sich dem praktischen Intellektualismus die Aussicht, die ganz große Technik, die Ars magna alles Wissens und Erfindens zu schaffen.

Das Lebenswerk des großen Leibniz besteht seinem philosophischen Teile nach in der Lösung der Aufgaben, die durch die innere Krisis der suarezischen Metaphysik gestellt waren; die beiden, [315] unter sich zusammenhängenden Lösungsweisen, sowohl die mathematische wie die logizistische sind von ihm in großartigen Versuchen unternommen worden. Darin war ihm z. T. Joachim Jungius, der einsame und von seiner Zeit kaum beachtete Professor in Hamburg, vorausgegangen{101}. In diesem Zusammenhange kommt es auf die Tatsache an, dass die «reformierte Philosophie», wie Leibniz sein Unternehmen anfangs genannt hat, in der zeitgenössischen Jesuitenschule nicht nur keine Gegner, sondern natürliche Bundesgenossen gefunden hat.

§ 24. Im Jahre 1610 veröffentlichte der Calviner Joh. Heinrich Alsted, der oben schon als Anhänger der neuen Metaphysik genannt wurde, eine enzyklopädische Methodologie, wo der Name des Lullus, des Spaniers aus dem Mittelalter, bereits auf dem Titelblatt erscheint{102}. Bald nachher sinnen die lutherischen Scholastiker Gutke und Calov auf eine allgemeine Wissenschaftslehre; sie tritt zwar weniger als Denkkunst, denn als Erkenntnistheorie auf, wobei jedoch zu beachten ist (s. o. Anm. 87, S. 804 f.), dass diese prinzipiell vom «habitus intellectivus» und nicht vom «objectum formale» ausgehende Wissenschaftslehre in engster Nachbarschaft zu dem konstruktiven Rationalismus des Barockdenkens verharrt. Unter den erstgeborenen Schülern der neuen Metaphysik, unter den Jesuiten selbst, erbaute der in Murcia und Madrid lehrende Sebastian Izquierda einen Pharus scientiarum, erschienen 1659 in Lyon, dessen ins Neuland weisende Licht schon aus dem langen Untertitel zu erkennen ist: «Pharus scientiarum, ubi ... scientia de scientia ob summam universalitatem utilissima scientificisque jucundissima scientifica methodo exhibetur, Aristotelis organum jam pene labens restituitur illustratur augetur atque a defectibus absolvitur, ars demum legitima ac prorsus mirabilis sciendi omnesque scientias in infinitum propagandi et methodice digerendi ... in lucem proditur...» Bekannter sind die vielfachen Bemühungen des deutschen [316] jesuiten Athanasius Kircher um die ars magna. Sein Gehilfe und Ordensgenosse Caspar Schott in Würzburg veröffentlichte 1657 ff. eine Magia universalis naturae et artis; und in Prag erschien 1682 zum ersten Male die Via regia ad omnes scientias von Caspar Knittel{103}. Nachdem die Ars-magna-Schriften des Lullus in einer langen, seit etwa 1500 nicht abbrechenden Reihenfolge von Drucken verbreitet worden und der große Denktechniker aus dem spanischen Mittelalter allmählich zum Ideal des barocken Zeitgeistes erhoben war, wurde mit dem Druck seiner Opera omnia im Jahre 1721 zu Mainz begonnen. Diese einzelnen, am Wege liegenden Zeugnisse legen es nahe, den Ramon Lull für einen der mächtigsten Autoren zu halten, die weniger das Lehrmaterial als den prinzipiellen Habitus der barocken Schulphilosophie bestimmt haben.

Leibniz hat den Pharus scientiarum des Izquierda schon in der Jugend gelesen. Seine zweite Universitätsschrift, die Dissertatio de arte combinatoria vom Jahre 1666, gibt allen Lullisten der Zeit ein Stelldichein; die Denkkunst ist eben vorzüglich ars combinatoria: «Atque hinc esse judico, quod immortalis Kircherus suam illam diu promissam artem magnam sciendi seu novam portam scientiarum, qua de omnibus rebus infinitis rationibus disputari cunctorumque summaria cognitio haberi possit, Com2natoriae (so!) titulo ostentaverit»{104}.

Was aber die Mathematisierung der Philosophie und Theologie angeht, so hat Leibniz auch hierin bei den Vätern der Gesellschaft Jesu seine natürlichen Bundesgenossen gesehen. Diese Tendenz lag, wie bemerkt, als ein immanentes Gesetz in der Entwicklung der suarezischen Metaphysik selbst. Und eben auf Grund dieser philosophia recepta hat sich Leibniz in solchem Fortschritt zu einer philosophia reformata vor allem mit den offiziellen Vertretern der Jesuitenschule verwandt gewusst. Dieses Verhältnis müsste einmal in einer ausführlichen [317] Darstellung beleuchtet werden; denn nicht wenige Auffassungen, die bisher in der Geschichte der Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts landläufig sind, würden durch seine genauere Kenntnis revidiert und geklärt werden. Um den bisher nicht ohne Mühe eingehaltenen Rahmen eines Hinweises nicht am Schlusse noch zu sprengen, sei kurz auf einige Tatsachen aufmerksam gemacht.

In dem «revocare res ad numeros sive figuras» hat Leibniz das Mittel gesehen, um vorzüglich die theologische Disputatio aus einem endlosen und fruchtlosen Feilschen zu einer wirklich schlüssigen «Generalbilanz» zu bringen; eine solche Anpassung der theologischen Methode an das mathematische Beweisverfahren biete den ungeheuren Vorzug, sowohl die christlichen Konfessionen wieder zu vereinigen, als auch die Heiden sicher und dauernd zu bekehren. Die Anregung zu dieser These über eine mathematisierende Theologie und gewissermaßen die Probe aufs Exempel hat Leibniz aus der Rolle empfangen, welche die Jesuiten der Mathematik und der mathematischen Demonstration in ihrer Chinamission eingeräumt hatten{105}. Honoratus Fabri hatte in den sechziger und siebziger Jahren versucht, den Mathematismus –die Metaphysica Euclidea, wie es damals hieß– philosophisch und theologisch nutzbar zu machen. Leibniz hat dieses Unternehmen begrüßt. Als der erste Philosophieprofessor an der römischen Ordensuniversität, der spätere Kardinal Joh. Bapt. Tolomei, im Jahre 1696 seine Philosophia mentis et sensuum veröffentlichte, da wusste sogar der römische Zensor nichts Rühmlicheres von dieser Philosophie zu sagen als: «ibi ... philosophica acumina mathematicis demonstrationibus mixta». Leibniz wandte sich im Jahre 1705 an den ihm von der italienischen Reise her bekannten und hochgeschätzten Tolomei in zwei Briefen, worin jedesmal unter anderem auch das gemeinsame Bemühen um das Ideal aller Philosophie und Theologie berührt wird: «Utinam haec omnia redigere vacaret in Euclideas demonstrationes, quemadmodum fieri posse video». Und im Jahre 1697 schreibt Leibniz im Journal des Savants, die Väter der Gesellschaft Jesu wären nach seiner Ansicht am fähigsten, das durch die unnützen Neuerungen Descartes' zurückgedrängte Ansehen «der Philosophia des hl. Thomas» durch Berücksichtigung der neuen Naturerklärung und zumal durch die Einführung der so sicheren und allgemein nützlichen Beweismethode à la façon des Geomètres zu rehabilitieren: zum Wohle des ganzen Menschengeschlechtes{106}. [318]

——

{86} Vgl. die Warnung der Ratio studiorum vor anrüchigen Autoren und die Verordnungen der III. (1573) und V. (1593) Generalkongregation, bei der Auswahl der Aristoteles-Kommetare sehr vorsichtig zu sein, was besonders von den «Averroistae, Alexandrini et similes sectae» gilt, bei G. M. Pachtler, Ratio studiorum etc. tom. I, p. 59, 76 s., 80 s.

{87} Über Nicolaus Taurellus s. das liebevolle, die historische Erklärung zurückstellende Referat bei Peter Petersen, Gesch. der aristol. Philosophie usw. S. 219-262. Über Daniel Cramer und Christian Dreier ebd. S. 283 f., 300 f. – Emil Weber, Die philosophische Scholastik usw. S. 107 ff. hebt besonders noch die Selbständigkeit des Georg Gutke († 1634) hervor; doch dessen «erkenntnistheoretische Metaphysik», wie Webers leicht misszuverstehender Ausdruck lautet, ist tatsächlich eine Fortführung der von Zabarella-Suarez grundgelegten logizistischen Metaphysik, ähnlich wie es Clemens Timplers Systema methodicum war; vgl. übrigens die Einschränkungen, die Petersen zu Webers Urteil anbringt a. a. O. S. 204, 317, 323.

Petersen weist mit Recht gegenüber Weber auf den Zusammenhang hin, in welchem die sogenannte «erkenntnistheoretische Metaphysik» oder «Grundwissenschaft» der Gutke-Calov und ihrer Schüler mit der Denkweise der Reformierten Timpler und Alsted steht. Nur übersieht auch er, dass schon Rudolf Goclenius eine von der Metaphysik zu unterscheidende Grund- und Generalwissenschaft gefordert hat. In der interessanten Vorbemerkung, die Goclenius seiner Isagoge in Peripateticorum et Scholasticorum Primam Philosophiam, quae dici consuevit Metaphysica, Francofurti 1598 (Vorwort vom September 1597) vorausgeschickt hat, gibt er den primae philosophiae studiosis bekannt, dass die gedruckt vorliegende Isagoge seine eigene Auffassung von der prima philosophia nicht vollkommen wiedergebe. Darum schickt er Thesen voraus, die kurz seine eigene Auffassung andeuten sollen. Der Kern dieser Thesen ist folgender (l. c. p. VII-X unbeziffert): Die prima philosophia im strengen Sinne sei die «scientia universalis, quae explicat de universalissimis, hoc est quae sparsa sunt per omnes scientias»; die eigentliche Metaphysik dagegen ist eine scientia particularis, da sie ja von Gott und von den Geistern handelt. «Ita prima Philosophia et Metaphysica inter se distinctae et diversae scientiae fuerunt». Auch die Metaphysik ist «propter magnam distantiam inter finitum et infinitum» noch zu trennen in eine Gotteslehre und Engellehre.

Diese Dreiteilung der Metaphysik in eine scientia universalis und in die metaphysische Theologie und Angelologie stammt übrigens keineswegs von Goclenius; sie ist schon als verbreitetste opinio referiert in Suarez, Disputationes metaphysicae, disp. I, sectio 3, n. 2. Vgl. ebenda sectio 2, n. 23, wo Suarez ausführt, dass die Einteilung der Metaphysik in eine scientia particularis (sc. über die geistigen Substanzen) und in eine communis ars (!) oder scientia universalis (auch sc. generalis genannt) nicht zwei verschiedene Wissenschaften, sondern zwei verschiedene Leistungen ein und derselben Metaphysik bedeuten könne. Dass die spezielle Fragestellung Gutkes über die von Weber so genannte «erkenntnistheoretische Metaphysik» (s. o. Anm. 42, S. 273 f.) nichts Neues ist, ergibt sich ebenfalls schon aus der Disputalio prima des Suarez; vgl. sectio 4, n. 30: «... respondetur, considerationem scientiae, prout est quaedam spiritualis qualitas mentis et habitus vel operatio ejus talis conditionis et naturae, multiplicem esse posse. Una est mere speculativa, qua contemplamur quid sit talis res et quas proprietates habeat: et haec consideratio vel pertinet ad eam partem Philosophiae naturalis, quae de anima rationali tractat, si de humana tantum scientia, quae non est sine phantasia, sit sermo; – vel, si abstracte et absolute loquamur de scientia, per tinebit ad Metaphysicam, nam est res vel proprietas abstrahens a materia secundum esse. Alia consideratio scientiae est quasi practica et artificiosa, quae non est de habitibus sed de actibus scientiae ...» und damit meint Suarez die Betrachtungsweise der Logik oder Dialektik.

Freilich hat Suarez die hier in Aussicht gestellte «Metaphysik der Erkenntnis» nicht zum Gegenstand einer besonderen Disputatio gemacht. Wird aber im Zusammenhang gesehen, was er über die Abstraktion (disp. II, s. 2, n. 15 ss.), über die rein geistige Erkenntnis (disp. XXXV, s. 4, n. 4 ss.) und namentlich über den habitus scientiae (disp. XLIV, s. 3, n. 6 s., und die ganzen sectiones 4 und 11 daselbst) ausgeführt hat, so ergibt sich eine «erkenntnisttheoretische Metaphysik» (Weber), die durch ihre Tendenz, den subjektiven Habitus gegenüber dem zu erkennenden Objekt zu verselbständigen, den Gutke und Calov weithin vorgearbeitet hat.

{88} Petersen, a. a. O. S. 285; Weber, a. a. O. S. 17, vgl. S. 63.

{89} Petersen, a. a. O. 202 ff. u. S. 209. Die Bibliographie der Philosophi Altdorfini bei Dan. G. Morhofius, Polyhistor literarius etc. tom. II, l. I. c. 11, § 32 (3. Aufl. 1732 p. 62 s.). Die Schriften der Altdorfer scheinen selten geworden zu sein, und es gelang mir nicht, sie von meinem Wohnorte aus zu erreichen; deshalb kann hier nicht aus eigener Prüfung, sondern nur aus den Angaben von Petersen und Weber geurteilt werden. Aber die ganz einzigartige Stellung, welche die Altdorfer in dem scholastischen Frühling um die Wende zum siebzehnten Jahrhundert eingehalten, sticht so hervor, dass sie in diesem Zusammenhange wenigstens auf solch vorläufige Weise erwähnt werden musste.

{90} v. Elswich, Schediasma etc. (s. Anm. 34, S. 268) p. 60 s.; Weber, a. a. O. S. 17; Petersen, a. a. O. S. 304. Über Thomas Peregrinus O. P. berichten Quétif-Echard, Scriptores Ordinis Praedicatorum, tom. II., Paris 1721, p. 270: «F. Thomas Peregrinus Venetus ..., inquit Rovetta, vir in scholasticis philosophiae et theologiae disciplinis celeberrimus, a senatu Veneto ad cathedram metaphysicae in via S. Thomae moderandam Patavii allectus fuit anno 1560. ... 1584 ei suffectus fuerit Angelus Andronicus item Venetus et ejusdem ordinis.» Es wird bemerkt, dass von Peregrinus Metaphysik- und Physik-Kommentare in Handschrift und Druck im Umlauf waren. Dass um diese Zeit das: «cathedram metaphysicae in via S. Thomae moderare» etwas Besonderes bedeutet, ist daraus zu schließen, dass der Orden im Jahre 1564 auf dem Generalkapitel zu Bologna festsetzte: «Quicumque verbo vel scripto a solida doctrina Divi Thomae recesserit contrarium aliquid dicendo, officio lectoratus et quocumque alio gradu et dignitate privetur perpetuo», was im Jahre 1569 und 1571 auf dem Ordenskapiteln in Rom bestätigt worden ist. (Nach den Angaben im Vorwort zu der Frankfurter Ausgabe des Coll. Complutense 1629, tom. I, p. XIII unbeziffert.)

{91} Hermanni Conringii Operum tom. VI., curante Joh. Wilh. Grebelio, Braunschweig 1730, p. 337-343 (folio). Nach Petersen, a. a. O. S. 149 f., der übrigens diese Disputatio nicht erwähnt, hat Conring im Jahre 1638 zu Helmstedt eine ganz «scholastisch» gehaltene Schrift über die Methode der Physik veröffentlicht. Über den in der Disputation erwähnten Helmstedter Philos.-Professor Conrad Horn (1590-1649) s. bei Petersen, S. 169 u. 291.

{92} Bei Emil Weber, Der Einfluss der protestantischen Schulphilosophie auf die orthodox-lutherische Dogmatik S. 145 f. fungieren diese altscholastischen Ausdrücke als Beispiele jener metaphysischen Termini, die «gefährliche Schmugglerware in sich tragen». Hier bei Conring also ein neues Zeichen für die «Gefährlichkeitt» des orthodoxen Kreises um Georg Calixt.

{93} Der zweite Teil ist historisch durchaus in demselben Stil gehalten; hier tritt u. a. noch Hurtado de Mendoza als echter Autor auf. In den zwei letzten Thesen ziehen Suarezische Metaphysik und Zabarellas Instrumental-Logik freundnachbarlich das Fazit der Disputatio.

{94} Z. B. in der Auseinandersetzung mit Vitus Erbermann S. J. vom Jahre 1660, Opera tom. VI, 380-388; s. besonders p. 384 ss.

{95} Peter Petersen, Die Geschichte der aristotelischen Philosophie usw. S. 291 ff. – Der Charakter der Jenenser Schule ist dort durch das Vorwort der Praecepta Metaphysicae ex probatis auctoribus collecta ... des Joh. Stier vom Jahre 1641 beleuchtet: «... habebis hic praecepta non de novo inventa vel ex proprio cerebello deprompta, sed communissima et in scholis metaphysicorum tritissima; imprimis vero selecta ex metaphysicorum doctoribus et magistris Suarezio, Fonseca, Mendoza aliisque multi nominis auctoribus, quibus suo jure quodam adjicio clarissimum philosophum Jenensem Stahlium, praeceptorem meum honorandum». Aus «der Vermengung von Timpler und Suarez», die Petersen, a. a. O. S. 291 an der Weise, wie die Jenenser den metaphysischen Lehrstoff einteilen, konstatiert, kann natürlich, wie sich im § 15 zeigte, nicht auf ein Abweichen von den Prinzipien der suarezischen Metaphysik geschlossen werden; jedenfalls ist diese «Vermengung» kein Hindernis gewesen, dass Stier der allgemeinen Schulüberzeugung Ausdruck gegeben hat: Suarez sei der «Communis omnium metaphysicorum doctor et magister», l. c.

{96} Nach Hurter, Nomenclator literarius tom. IV3, p. 652. Die Disputatio ist bei Gerhardt in Bd. IV, S. 17-26 nach dem Leipziger Originaldruck wiedergegeben. Dieser ist mit Druckfehlern angefüllt. Einige hat Gerhardt verbessert; aber die Autoren-Namen sind –wohl nicht allein durch die Schuld des Druckers– derart verstümmelt und verletzt angegeben, dass sie häufig nur mehr schwer erkennbar sind.

{97} Die Liste sieht so aus: «Idem ... igitur tenet Fr. Murcia l. v., Fr. Suarez disp. Met. 5, Zimara apud Mercen. disp. de P. I. P. c. 9, Perer. l. 6. c. 12. Ac nupperrime Pl. Reverend. Calov. Met. Part. Spec. tr. 1. art. 1. c. 3. n. 2. et B. Stahl, Comp. Met. c. 35.

{98} In der gegen den Einspänner Joh. Christoph Sturm gerichteten Schrift De ipsa natura sive de vi unita etc. § 12 (Gerhardt IV, S. 512).

{99} Petersen, a. a. O. 341. – Ein unbeachtetes Zeugnis für die kritische Stellungnahme des Jacob Thomasius zur zeitgenössischen Schlastik hat der Sohn Christian in seiner Historia stultitiae et sapientiae, tom. III (= 3. Quartalheft) 1693 S. 225-243 veröffentlicht. Der Aufsatz ist überschrieben: «Theologia Scholastica et ejus initium» und handelt vorzüglich über die Scholastik in der Theologie. Des Jacob Thomasius Meinung drückt besonders § 11 u. 12 aus: «In ipsa Theologia Scholastica distinguendum est inter virtutem et vitium ... Ad virtutem refer, quod methodo antiqua aliqua Theologicam de credendis doctrinam comprehendere voluerunt» a. a. O. S. 227 f. Zu den vitia gehören natürlich in erster Linie die «unnützen Spitzfindigkeiten». Wie schnell sich diese sehr reservierte Kritik zur völligen Aufklärung des «natürlichen Menschenverstandes» entwickelt hat, zeigt das Nachwort, das der Sohn und Redakteur dem Aufsatz beigefügt. Diesmal gibt Christian seiner redaktionellen Bemerkung die Form eines –historisch lehrreichen– Stoßgebetes: «Misereatur Deus populi sui et Theologiam Scholasticam, contra serias prohibitiones Lutheri a spuriis ejus quibusdam successoribus iterum ex arca revocatam, in tartara cum omnibus systematibus, quae eidem superstructa sunt, retrudat!» Die unverständlichen Subtilitäten müssen zu dem Zwecke verschwinden: «ut omnes Laici fiant Clerici uti tempore Apostolorum fuit ...Fiat! Fiet!» l. c. S. 242 f.

{100} Zit. nach Bernhard Duhr, Geschichte der Jesuiten usw. Bd. II, 1, S. 524. – Die Akten der neunten Generalkongregation sprechen im Decretum XXIII. von «aliquot Provinciarum (!) querimoniae adversus Philosophiae Professores (delatae)» und bescheiden sie so: «Corigregationis autem ... sententia fuit, sufficienter incommodis hujusmodi provisum in Ratione Studiorum per Regulas ...» Ähnlich lautet die Sentenz des Decr. XXXI. derselben Generalversammlung hinsichtlich der Theologie; s. G. M. Pachtler, Ratio Studiorum etc., tom. I. p. 92 s.

{101} Die bisher beste Darstellung der Entwicklung Leibnizens aus den Voraussetzungen des Aristotelismus der zeitgenössischen Scholastik bietet Peter Petersen, a. a. O. S. 345-380. Über die scholastisch-suarezische Bildung des Joachim Jungius s.o. Anm. 79, S. 297 f.; über seine spätere Entwicklung s. Petersen, a. a. O. 154 ff. Besonders ist die siebte These der Disputation vom Jahre 1639, worin Jungius seinen Physico-Mathematismus verteidigen ließ, hier bemerkenswert: «Desgleichen hat er gegen jene substantiellen, materiellen, verborgenen und einfachen Formen, die nach der Lehre der latenischen Peripatetiker aus der potentia der ersten Materie hervorgebracht werden sollen, gestritten und hat behauptet, dass dieselben mit sehr schwachen Argumenten von Zabarella, Toleto, Fonseca, Suarez bewiesen worden und dass diese Lehre von der Meinung des Aristoteles durchaus abweicht» (Petersen, a. a. O. S. 155).

{102} S. Petersen, a. a. O. S. 311; nach Hurter, Nomenclator etc. tom. II2, col. 475 ist Alsted auch der Herausgeber von Lullus-Kommentaren zu Köln 1611 und der Clavis Lulliana, Straßburg 1633.

{103} S. V. Ph. Gumposch, Die philosophische Literatur der Deutschen, Regensburg 1851, S. 157 f. und S. 161. Über Izquierda s. Hurter, Nomenclator etc. tom. IV4, col. 10; ebenda col. 714 ist verzeichnet die Artis magnae sciendi brevissima synopsis, die der Kapuziner Juvenalis Ananiensis 1689 erscheinen ließ und die Ser. Haggenmüller unter dem Titel «Der goldene Zirkel» noch 1904 zu Augsburg in deutscher Übersetzung herausgab (warum sollte, da es eine romantische Gotik gegeben, ein romantischer Barock unmöglich sein?). Über die Verbreitung des Lullismus in Spanien s. die Werke von Menéndez y Pelayo: In der Abhandlung über Raimundo Lulio (in Ensayos de crítica filosófica, Madrid 1918, p. 267 ss.) spricht er von «los lulianos nunca extinguidos en España»; in La ciencia Española, tom. III5 p. 30 s. werden bei Luis de Leon Anklänge an die Ars magna konstatiert; vgl. auch Menéndez y Pelayo, Historia de las ideas estéticas en España, tom, II3, Madrid 1910, p. 183-186.

{104} Ausgabe Gerhardt IV, S. 64; vgl. s. 61 ff. Andere ideengeschichtlich wichtigere Äußerungen Leibnizens über den celeberrimus Kircher: Hypothesis physica nova (1671) § 34 (bei Gerhardt IV, S. 198 ff.; vgl. S. 244); in den Schriften zur scientia generalis (VII, S. 72); Brief an des Bosses (II, S. 437 f.). – Leibniz über Izquierda (II, S. 450).

{105} Über die Reform der Disputation s. Schriften zur scientia generalis, Gerhardt VII, S. 188; über das Thema: Leibniz und die mathematische Missionsmethode der Jesuiten in China s. die ausführliche Darlegung des zum Teil handschriftlichen Materials in Frz. Merkel, G. W. Leibniz und die Chinamission, Leipzig 1920, S. 82-95.

{106} An Tolomei, Gerhardt VII, S. 466 und S. 468; die allgemeine Bemerkung über die besondere Eignung der Jesuiten für die «reformierte Philosophie» (des hl. Thomas!) IV, S. 349. – Um ein mögliches Missverständnis auszuschließen, muss angemerkt werden, dass Leibniz ebensowenig wie Fabri, Tolomei usw. der Meinung gewesen ist, die Metaphysik könne als Ganzes einfach durch Mathematik ersetzt werden. Die mathematisierende Tendenz ging nur auf eine möglichst weitgehende Anwendung der mathematischen Methode; und sie blieben «altscholastische» Aristoteliker genug, um metaphysische Probleme (z. B. das Verhältnis von Leib und Seele, von causa efficiens und causa finalis), wo auch diese methodische Anwendung versagte, deutlich genug zu sehen. Die mit den Mitteln der Mathematik erstrebte Reform der Metaphysik ging letzten Endes darin auf, die im Begriffs-Wesen-Kombinieren erschöpfte Scholastik durch die neue Methode zu rehabilitieren. Das positive Ergebnis war die endgültige Ausscheidung der Physik aus dem Cursus philosophicus, worin sie durch die auffallend hartnäckige Gewohnheit der Italiener und des Suarez, den Physiker als philosophus dem metaphysicus und diese philosophia der metaphysica zur Seite zu stellen, gerade im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert festgehalten worden ist. Diese Verselbständigung der Physik ist um den Preis erkauft worden, dass die von Aristoteles ungeschieden unter dem Namen Physik vorgetragene Naturphilosophie verkannt worden ist und dass die Naturwissenschaftler seither immer wieder versucht worden sind, ihre genau nach Aristoteles-Thomas auf das methodische Experiment sich gründende Erfahrungswissenschaft für die Wissenschaft par excellence, bzw. für die einzig wahre «Philosophie» zu halten. Die Bedeutung der neuen Metaphysik im siebzehnten Jahrhundert für die Bildung des modernen Physikbegriffes bedarf noch einer näheren Untersuchung.

[In: Spanische Forschungen der Görres-Gesellschaft I, Aschendorff, Münster 1928, pp. 251-325.]