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I
Zu dem Thema: Leibniz und die Scholastik

Karl Eschweiler: “Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den deutschen Universitäten des siebzehnten Jahrhunderts” (1928)




§1. Joachim Friedrich Feller, der Eckermann Leibnizens, hat in seinem «Otium Hanoveranum» {1} viele gelegentlichen Aussprüche und Aufzeichnungen des Meisters bewahrt, die für die Geschichte des Denkens im siebzehnten Jahrhundert bemerkenswert sind. Die Nummer 189 lautet darin so: «Mons. Des-Cartes a voulu passer pour ne s'être jamais servi de livres, et pour avoir tout produit de son fond, quoyqu'il soit très-certain, qu'il en a lû plusieurs, et qu'il a etudié la Logique aux Jesuites de la Fleche. J´en ay donné quelques particularités à Mr. Thomasius, qui les a inséré dans son livre intitulé Historia sapientiae et stultitiae. Il étoit trés-versé dans la Philosophie scholastique, qui a bien du bon en elle même, mais qui n'est pas assez epurée»{2}. Aus dieser gelegentlichen Bemerkung geht zweierlei hervor: Leibniz hat der [253] Geniegeste, womit Descartes die schöpferische Unbedingtheit seiner Philosophie empfehlen wollte, nicht getraut. Der formale Habitus des neuen Denkens kam dem deutschen Meister gar nicht so neu vor; er sah die Logique de la Flèche dahinter stehen, wobei zu erinnern ist, dass die Logik für Leibniz noch in einem Sinne «formal» war, der das den Erkenntnisstoff gestaltende Prinzip bedeutet. Zweitens geht aus der Bemerkung hervor, wie Leibniz selber zur scholastischen Philosophie gestanden hat. Er findet viel Gutes in ihr; sie sei aber noch nicht genug gereinigt.

Das erwähnte livre des Mr Thomasius ist eine Zeitschrift, eine Vierteljahrschrift, die Christian Thomasius nur redigiert hat{3}. Den größeren Raum in der Historia sapientiae et stultitiae nehmen die Aufsätze ein, die Christian aus dem Nachlass seines Vaters Jacob Thomasius, Leibnizens Lehrer in Leipzig, abgedruckt hat. Im zweiten Hefte vom Jahre 1693 findet sich nun der Leibnizische Aufsatz, auf den in der von Feller aufbewahrten Bemerkung hingewiesen ist. Sein Titel lautet: Notata quaedam G. G. L. circa vitam et doctrinam Cartesii. Der Inhalt enttäuscht ziemlich; die quelques particularités zu dem Thema Descartes und die Scholastik, die man dort nach dem Wortlaut der Bemerkung erwarten sollte, bestehen tatsächlich aus ziemlich allgemein gehaltenen Ausführungen über die Beziehungen Descartes' zur zeitgenössischen Philosophie und Wissenschaft. Der Hauptzweck der flüchtigen Notata ist offensichtlich der, die Mythologie von der geheimnisvollen Originalität des cartesischen Systems aufzuklären{4}. Chr. Thomasius unterstreicht diese Absicht behaglich in der praktischen Nutzanwendung, die er als Redakteur den Aufsätzen seiner Zeitschrift anzuhängen pflegte.

Leibniz hielt auch in geschichtlichen Dingen auf die Gültigkeit seiner lex continuitatis. So musste er gegen die Unsachlichkeit protestieren, womit Descartes und noch mehr die «Sekte» der Cartesianer die neue Methode mit dem theatralischen Nimbus eines Deus ex machina zu umhüllen beliebten. Darin sah er eine Gefahr für den wirklichen Fortschritt der Philosophie. In den Schriften, die Gerhardt unter dem Titel: «Leibniz gegen Descartes und den Cartesianismus» gesammelt hat, ist darum immer wieder das Thema variiert: «Il faut avouer que M. des Cartes a esté un des plus grands esprits dont on ait connoissance. Mais il a terni ces belles qualités par une ambition desmesurée d´estre chef de secte, par un mépris intolerable el souvent mal fondé des autres [254] et par des artifices eloignés de la sincerité, dont il est aisé de voir des marques»{5}.

Aus diesem Streben, das Urteil der Zeitgenossen über die cartesische Philosophie auf die geschichtliche Wirklichkeit zurückzulenken, erklärt es sich auch, dass Leibniz nicht nachgelassen hat, den Zusammenhang der cartesischen mit der scholastischen Lehre hervorzuheben. An bestimmten Einzelheiten lag hier begreiflicherweise die auffällige Verwandtschaft des cartesischen mit dem anselmischen Gottesbeweise am nächsten. Leibniz meint sogar, Descartes habe die Kenntnis des anselmischen Argumentes aus zweiter Hand genommen, nämlich aus der Kritik des «Aquinaten selbst»: «ejus studii non expers, postquam apud Jesuitas Flexiae literas hausit»{6}. Vor allem aber sieht Leibniz die Abhängigkeit Descartes' in dem formalen Habitus der neuen Methode. Was sich darin an gründlicher Argumentationsweise findet, weist auf die scholastische Erziehung zurück. Der berühmte Brief an Gabriel Wagner, den Leibniz gegen die Verächter der formalen Logik geschrieben, bringt eine beinah wörtliche Übersetzung der oben aus dem Otium Hanoveranum angeführten Stelle: «Sonst weis ich nicht, ob Archimedes und Descartes unter die Verächter der Logick zu zählen, wenigstens hat sie Cartesius bey den Jesuiten zu Flesche mit großem Fleiß gelernet, und ist er in der Scholastischen Philosophie ganz wohl erfahren gewesen, welche auch viel guthes in sich hat, wenns nur ausgeklaubet währe»{7}.

Leibnizens Bemühungen, die philosophierenden Zeitgenossen von der Illusion, Descartes' Methode sei wie vom Himmel gefallen, zu befreien –les desabuser, sagt er{8}–, sind im großen und ganzen vergeblich gewesen; er hat nicht verhindern können, dass der philosophiegeschichtliche sensus communis im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert in Descartes gläubig den Denker verehrt hat, der die philosophische Entwicklung auf dem Festlande entgültig von der «mittelalterlichen» Scholastik gelöst und auf sich selbst verwiesen habe{9}. Diese Vorstellung hat sich zäh bis auf unsere Zeit hin behaupten können, bis die Freudenthal, v. Hertling, Ét. Gilson, Alex. Koyré wieder auf die positiven [255] Beziehungen aufmerken ließen, in denen Descartes' Genie mit der scholastischen Umwelt verbunden war. Wie hat nun Leibniz selber zur Scholastik gestanden? und vor allem: Weiche Scholastik hat er gekannt?

§ 2. Das Thema «Leibniz und die Scholastik» im engeren Sinne ist mehrfach behandelt worden, sowohl im Zusammenhang von biographischen Erörterungen wie auch monographisch. Unter den gesonderten Darstellungen ist die kürzeste bis heute die verhältnismäßig beste geblieben; es ist der Aufsatz, den R. v. Nostiz-Rieneck im Philosophischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft veröffentlicht hat{10}. Die weitläufigere Abhandlung von Jos. Rintelen{11} ist dem Material wie dem Urteil nach entscheidend von diesem Aufsatz bestimmt worden.

v. Nostiz-Rieneck wendet sich gegen die Überschätzung des scholastischen Einflusses auf Leibniz, wie sie gerade vorher Ludwig Stein vorgetragen hatte{12}. Das Ergebnis des Aufsatzes ist in dem Satz zusammengefasst: «Die Behauptung, dass Leibniz mit dem hl. Thomas und den großen Scholastikern ´innig vertraut' war, erscheint uns demnach als arge Übertreibung.» Die Argumentation, womit v. Nostiz-Rieneck und ihm zufolge Rintelen dieses Urteil begründen, ist soweit stichhaltig, als die Kenntnis bzw. Unkenntnis, die Leibniz von der Hochscholastik des Mittelalters gehabt hat, in Frage gezogen ist. Es ist überzeugend nachgewiesen, dass der große Polyhistor von den Albert, Thomas, Bonaventura, Scotus nur oberflächlich Kunde gehabt hat. Es lässt sich natürlich nicht beweisen, dass er ihre Werke überhaupt nicht aufgeschlagen habe; aber in den meisten Fällen ist klar ersichtlich, dass er von zweiter Hand an die Texte des Aquinaten verwiesen worden ist, ohne den zeitraubenden Versuch zu machen, ihren Sinn aus dem Zusammenhang zu verstehen. Es war doch verhältnismäßig leicht, die Prinzipien der thomistischen Doktrin über das Verhältnis von Theologie und Philosophie, von Gott und Welt, von Leib und Seele, von Sinnlichkeit und Verstand im Zusammenhang zu studieren; der erste Teil der Summa theologica bot ja in bündiger Kürze die Antworten des hl. Thomas auf diese Leibniz so stark beschäftigenden Fragen. Nirgends findet sich eine Andeutung, die für die Ausnützung dieser Gelegenheit spricht; entscheidend Wichtiges spricht vielmehr, wie v. Nostiz-Rieneck gezeigt hat, dagegen. Leibniz [256] hat gewusst, dass er von der mittelalterlichen Scholastik nicht viel gewusst hat. Dies ist aus der Tatsache zu schließen, dass er an seine gelehrten Freunde aus der Gesellschaft Jesu mehrmals und mit auffälliger Eindringlichkeit die Bitte gerichtet hat, sie möchten eine Geschichte der scholastischen Lehrmeinungen schreiben oder schreiben lassen; es müsse ein scholastisch-philosophisches Gegenstück zu den patristisch-theologischen Werken der Pétau und Thomassin geschaffen werden{13}. Das Bedürfnis, nach dem Natur und Geist beherrschenden Gesetz der Kontinuität sein eigenes Philosophieren als zeitgemäßen Ausdruck der philosophia perennis zu verstehen, ließ ihn die Lückenhaftigkeit seiner philosophiegeschichtlichen Kenntnisse empfinden und nach einer Geschichte der Scholastik rufen.

Die durch v. Nostiz-Rieneck bestimmte Meinung, Leibniz habe nur in einem losen Verhältnis zur Scholastik gestanden, ist also richtig, soweit die Hochscholastik gemeint ist. Sie ist aber keineswegs zutreffend, wenn die Beziehungen Leibnizens zur Spätscholastik des siebzehnten Jahrhunderts in Betracht gezogen werden. Es ist merkwürdig, dass die Behandlung von Themen wie: Descartes und die Scholastik, Spinoza und die Scholastik, Leibniz und die Scholastik fast ohne Ausnahme so geführt worden ist, als bezeichne der Name Scholastik ein nach Form und Inhalt einheitliches System von Lehrmeinungen, das von Anselm her bis auf das neueste Schulbuch «im wesentlichen» semper et ubique und in eodem sensu et dogmate überliefert worden sei. Für manche soll ja «die» Scholastik «die» philosophia perennis sein. Was vom göttlichen Offenbarungsglauben gilt, wird ohne deutlichen Unterschied auch den philosophie-theologischen Bemühungen der Glaubenden zuerteilt. Scholastik ist in solchen historischen Untersuchungen nicht ein Sammelname für Richtungen und Persönlichkeiten, deren Philosophie sich bis in die letzten Prinzipien hinein voneinander unterscheidet; sondern Scholastik bezeichnet da eine fertige, feste Größe, die dem Nichtkatholiken meist als Petrefakt aus dem Mittelalter, dem Katholiken als ein «im wesentlichen» unverändertes Lehrganzes gilt. Die in Deutschland namentlich von Clemens Baeuniker und Martin Grabmann geförderten Forschungen zur Geschichte des mittelalterlichen Denkens haben gezeigt, wie unhaltbar unhistorisch eine solche Vorstellung ist. Die Geschichte der Spätscholastik im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert ist noch wenig erforscht; darum ist hier die Unzulänglichkeit, die «scholastisch» benannten Männer und Meinungen historisch als einheitlichen Faktor zu behandeln, kaum bemerkt worden. So hat auch v. Nostiz-Rieneck keine Anstalten gemacht, seine Untersuchung über das Verhältnis Leibnizens zur Scholastik [257] nach der Verschiedenheit der Persönlichkeiten und Schulen zu spezifizieren; nicht einmal der Unterschied nach den großen Epochen mittelalterlicher Hochscholastik und tridentinischer Spätscholastik ist festgehalten worden. Und dennoch muss die Antwort ganz anders lauten, wenn nach den Beziehungen Leibnizens zur Spätscholastik gefragt wird; hier kann nicht ohne weiteres gesagt werden, dass die Behauptung, Leibniz sei mit dieser Scholastik «innig vertraut» gewesen, eine arge Übertreibung wäre.

§ 3. Als erstes und hauptsächliches Argument dafür, dass Leibniz «die» Scholastik nur oberflächlich gekannt habe, führt v. Nostiz-Rieneck die Stelle aus der Theodizee an, wo Leibniz sich zustimmend auf die scholastische Lehre von der puissance obedientielle beruft: In dieser Lehre sei ausgedrückt, wie Gott die Geschöpfe zu Vollkommenheiten und Fähigkeiten erbeben könne, die den immanenten Gesetzen und Kräften ihrer Natur überlegen seien; auf diesem Wege lasse sich die Möglichkeit der Wunder sehr wohl mit der Notwendigkeit der ewigen Ordnung des göttlichen Verstandes vereinigen: «quoyque ces Scholastiques donnent ordinairement des exemples de cette puissance, que je tiens impossibles, comme lors qu'ils pretendent que Dieu peut donner à la creature la faculté de créer»{14}. Aus dieser im Original mitgeteilten Bemerkung der Theodizee nimmt nun v. Nostiz-Rieneck einen Hauptbeweis für seine allgemeine These, Leibniz sei mit «der» Scholastik wenig vertraut gewesen; denn in Wirklichkeit sei, so behauptet er, die incommunicabilitas potentiae creativae «wie die Ansicht des hl. Thomas so der meisten und vorzüglicheren Scholastiker» gewesen. Also hätte Leibniz nicht schreiben können, die Scholastiker exemplifizierten die Lehre von der potentia oboedientialis gewöhnlich (ordinairement) an der Möglichkeit, dass Gott den Geschöpfen die faculté de créer mitteilen könne, wenn er in der scholastischen Literatur besser bewandert gewesen wäre{15}. Wie steht es um die historische Unterlage dieser Argumentation?

Der Magister sententiarum hat die Frage nach der Mitteilbarkeit der Schöpferkraft an die Geschöpfe bei Gelegenheit der Frage nach der Wirkweise der Sakramente aufgeworfen{16}. Die incommunicabilitas [258] potentiae creativae ist nun tatsächlich von der gesamten vortridentinischen Scholastik einmütig, wenn auch mit einem grundsätzlich mehr oder weniger klaren Ja aufrecht gehalten worden. Beiseite stehen bloß einige Nominalisten wie Gabriel Biel und der unvermeidliche, im Schrifttum des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts immer wieder auftauchende Einspänner Durandus. Wird also der Ausdruck v. Nostiz-Rienecks «die meisten und vorzüglicheren Scholastiker» auf die Häupter der Hochscholastik eingeschränkt, so ist das Argument für die losen Beziehungen Leibnizens zu diesen Scholastikern allerdings durchschlagend. Erinnert man sich jedoch der Neuerung, die Franz Suarez mit seinem Begriff der potentia oboedientialis activa in die Spätscholastik eingeführt hat, so zeigt die fragliche Stelle aus der Theodizee ein geschichtlich ganz anderes Angesicht. Leibniz spricht hier ausdrücklich von einer Erhebung der Geschöpfe «à des perfections et à des facultés plus nobles que celles, ou elles peuvent arriver par leur nature». Mag das plus nobles que theologisch auch präziser gefasst werden können, so steht es doch außer allem Zweifel, dass dem Verfasser der Theodizee jener Begriff der potentia oboedientialis vorgeschwebt hat, aus dem heraus Suarez in seinen Disputationes metaphysicae gegen Thomas und gegen omnes ejus discipuli et interpretes (so Suarez) die These vertreten hat, es hindere nichts anzunehmen, dass Gott per specialissimum concursum jedes Geschöpf zu jeder denkbaren Handlung, also auch zur actio creativa erheben könne{17}. Nun sind die Disputationes metaphysicae [259] des Suarez im siebzehnten Jahrhundert das bei weitem einflussreichste Handbuch der scholastischen Metaphysik gewesen, auch im protestantischen Deutschland; Leibniz hat sie in seinen Studentenjahren «wie einen Roman» gelesen{18}. Ihre Autorität ist namentlich für die philosophischen Schulbücher des Jesuitenordens von überragender Bedeutung gewesen. Und so ist die These des Suarez, dass dem Geschöpfe auf Grund der potentia oboedientialis übernatürlicherweise auch die Schöpferkraft mitgeteilt werden könne, tatsächlich im siebzehnten Jahrhundert ordinairement vertreten worden in jener scholastischen Literatur, die Leibniz unmittelbar –und er spricht von ces Scholastiques im Präsenz, nicht im Perfekt– zur Hand gewesen ist. Eine Stichprobe in die geläufigsten Cursus philosophici der Jesuitenschule beweist es{19}.

Wenn also Leibniz sagt, die Scholastiker gebrauchten als Beispiel für die puissance obedientielle gewöhnlich die Möglichkeit einer Erhebung des Geschöpfes zu einer eigentlichen actio creativa, so ist nach dem Dargelegten daraus keineswegs allgemein auf seine geringe Vertrautheit mit «der» Scholastik zu schließen. Aus einem solchen Schlusse geht nur das eine hervor, dass Leibniz die um ihn her wirksame Scholastik besser gekannt hat als seine modernen Kritiker.

§ 4. Ähnlich steht es mit dem zweiten Argument, womit v. Nostiz-Rieneck und die von ihn abhängige Literatur zu beweisen versuchen, dass Leibniz nur in oberflächliche Berührung mit «der» Scholastik getreten sei. Es handelt sich um eine Stelle in der Dissertatio praeliminaris, die Leibniz i. J. 1670 seiner Neuausgabe von Marius Nizolius, De veris principiis et vera ratione philosophandi contra pseudophilosophos beigegeben hat. Die Abhandlung stammt aus dem Anfang der Periode, da Leibnizens Interesse vorwiegend von den neuen physikalischen und mathematischen Problemen in Anspruch genommen wurde; sie ist ihrem Tone nach eine [260] scharfe Absage an die unnützen Spitzfindigkeiten der im Schulbetrieb noch herrschenden Scholastik. Aus dieser frischen Abneigung ist die Schärfe mancher scholastikfeindlicher Ausdrücke zu verstehen. Sie ist bald von einer ruhigeren Beurteilung und seit etwa dem Jahre 1686 von einer merklich sich steigernden Wertschätzung abgelöst worden.

An der betreffenden Stelle der Dissertatio praeliminaris plädiert Leibniz für eine Reinigung der philosophischen Sprache von tropischen Ausdrücken: «Quid enim aliud quant tropica sunt dependere, inhaerere, emanare, influere? Cujus postremi vocabuli inventione mire se effert Suarez. Cum enim Scholastici ante eum dudum in generali causae notione venanda sudassent nec verba illis commoda succurrerent, Suarez non quidem ingeniosior tamen audacior fuit, et adhibito callide influxus vocabulo causant definivit: quod influit esse in aliud, barbare satis et obscure etc.»{20}. v. Nostiz-Rieneck greift den Satz heraus: «Cujus postremi vocabuli inventione mire se effert Suarez», und argumentiert: Wäre Leibniz mit der scholastischen Literatur einigermaßen vertraut gewesen, so hätte er wissen müssen, dass der Ausdruck influere zur Bezeichnung der Kausalität in der ganzen Scholastik gebräuchlich gewesen sei; infolgedessen hätte, er nicht von seiner Erfindung durch Suarez reden können{21}. Nach dem klaren Sinn der Stelle geht aber Leibniz gar nicht darauf aus, ob der Ausdruck influere als Bezeichnung irgend einer Art von Ursächlichkeit in der früheren Scholastik vorkomme oder nicht; er bemerkt nur, dass Suarez die Urheberschaft für diesen Ausdruck insofern für sich in Anspruch nehme, als damit dem Bemühen der Früheren um eine generalis causae notio abgeholfen werden sollte. Tatsächlich nennen die Hurtado, Arriaga, Compton den Doctor eximius als Urheber dieser Definition der Kausalität; und Suarez hat sich selber dafür gehalten, da er die betreffende sectio der Disputationes metaphysicae mit dem ausdrücklichen Bemerken einleitet, Aristoteles habe keinen Allgemeinbegriff der Ursache gegeben und die Späteren hätten sich abgemüht, ihn zu finden. Also ist die Darstellung Leibnizens ihrem sachlichen Gehalt nach zutreffend. Er hat die fragliche Stelle in den Disputationes metaphysicae treu im Gedächtnis behalten. Auch v. Nostiz-Rieneck hat sie nachgeschlagen; aber in dem Bestreben, dem diesmal aggressiven Ton Leibnizens eine bescheidene Ausdrucksweise des Suarez entgegenzuhalten, hat er offenbar die sachlich entscheidende Stelle übersehen{22}. [261]

Dies genügt, um zu zeigen, wie sich das Urteil über das Verhältnis Leibnizens zur Scholastik bedeutend verändert, je nachdem das Verhältnis zur Hochscholastik oder zur Spätscholastik betrachtet wird. Es trifft zu, dass der große Polyhistor die klassischen Werke der mittelalterlichen Denker nur oberflächlich und aus zweiter Hand gekannt hat. Dafür spricht –von den hier entscheidenden immanenten Kriterien abgesehen– schon die äußere Tatsache, dass Leibniz als Ersatz für die von ihm vermisste Geschichte der scholastischen Philosophie jene Zitate und Referate hingenommen hat, die Franz Suarez und Gabriel Vasquez bei jeder Frage von den Meinungen der Alten zu geben pflegten{23}. Es trifft dagegen nicht zu, dass Leibniz auch die im siebzehnten Jahrhundert geläufige Scholastik, die vorzüglich von Suarez und seinen Schülern bestimmt worden ist, nur oberflächlich gekannt habe. v. Nostiz-Rieneck und die ihm unkritisch Nachsprechenden haben keinen einzigen Grund beigebracht, der dazu berechtigte, das von Leibniz häufig ausgesprochene Bekenntnis, er habe in seiner Jugendzeit diese Scholastik eifrig, ja mit einem seinen Lehrern übertrieben vorkommenden Eifer studiert, irgendwie in seiner objektiven Wahrheit anzuzweifeln. Für seine Wahrheit spricht vielmehr alles, sein Leben wie seine Philosophie. Es wird weiter unten noch Gelegenheit sein, darauf zurückzukommen. [262]

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{1} Joachimus Fridericus Fellerus, Otium Hanoveranum sive Miscellanea ex ore et schedis illustris viri ... Godofr. Guilh. Leibnitii ... quondam notata et descripta, cum ipsi in colligendis et excerpendis rebus ad Historiam Brunsvicensem pertinentibus operam navaret. Lipsiae MDCCXIIX (1718).

{2} L. c. p. 234.

{3} Historia sapientiae et stultitiae collecta a Christiano Thomasio, 3 tomi, Halae Magdeburgicae 1693.

{4} Der Aufsatz Leibnizens steht Tomus II. continens Aprilem, Majum et Junium Anni 1693, p. 113-123; Gerhardt hat ihn als No. VI unter den Aufsätzen und Briefen «Leibniz gegen Descartes und den Cartesianismus» abgedruckt, IV, 310 ff.

{5} Ausg. Gerhardt (nach der im folgenden zitiert wird) IV, 346; vgl. ebenda 295, 304, 320, 322, 326.

{6} L. c. IV, 358; vgl. 401 und 307.

{7} L. c. VII, 523; vgl. die Bemerkung in einem Briefe an Conring 1, 197 f.

{8} L. c. IV, 347.

{9} Es hat sich erfüllt, was L. bei Descartes befürchtet hat: «L'Esprit de secte et l'ambition de celuy qui pretend de s'ériger en chef de parti fait grand tort à la verité et aux progrés des sciences. Un auteur qui a cette vanité en teste tache de rendre les autres méprisables, il cherche à faire paroistre leur defauts; il supprime ce qu'ils ont dit de bon et tache de se l'attibuer sous un habit deguisé. Et il ne songe pas, qu'en payant d´ingratitude ses predecesseurs il laisse un mauvais exemple à la posterité, et pourra estre traité de même»; 1. c. IV, 304.

{10} Robert v. Nostiz-Rieneck S. J., «Leibniz und die Scholastik», Philosoph. Jahrbuch 7. Bd. (1894) S. 54-67.

{11} Fritz Rintelen, Leibnizens Beziehungen zur Scholastik, Archiv für Gesch. der Philos., 16. Bd. (= Neue Folge 9. Bd., 1903) S. 157-189, 307-334. - Josef Jasper, Leibniz und die Scholastik (Leipziger Dissert. 1898) kommt nur als fleißige, aber keineswegs (wie Rintelen meint) vollständige Materialsammlung in Betracht.

{12} Ludwig Stein, Leibniz und Spinoza. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Leibnizischen Philosophie, Berlin 1890.

{13} Brief an Tolomei v. 6. Jan. 1705 (VII, 466); an Des Bosses v. 24. Dez. 1707 (II, 344), v. 8. Febr. 1708 (II, 347), v. 2. Juli 1710 (II, 407); vgl. Théodicée, Discours prélim. n. 6 (VI, 53).

{14} Théodicée, Disc. prel. n. 3 (VI, 50 f.).

{15} A. a. 0. S. 63. – Rintelen übersah die leise Einschränkung v. Nostiz-Rienecks («der meisten und vorzüglicheren Scholastiker») und schrieb unbekümmert: «Wenn Leibniz bei Gelegenheit des Begriffes der potentia oboedientialis behauptet, die Scholastiker hätten gelehrt, Gott könne die Schaffenskraft an die Geschöpfe verleihen, so haben wir darin wahrscheinlich die Erinnerung an ein nicht genau verfolgtes Gespräch [!] zu sehen: denn lesen konnte Leibniz überall das gerade Gegenteil», a. a. O. S. 317.

{16} Petrus Lombardus, Sententiarum lib. IV, dist. 5, cap. 3 (in der Quaracchi-Ausgabe von S. Bonaventurae Opera omnia tom. IV, 119; über die scholastische Literatur in der angezogenen Frage s. das Scholion der Herausgeber zu dem Sentenzenkommentar des hl. Bonaventura 1. II, dist. 1, pars 1, art. 2, qu. 2 = tom. II, 30).

{17} Franc. Suarez, Metaphysicae disputationes, disp. 20, sectio 3 (Ausgabe Mainz 1600, tom. I, p. 426 s.). Suarez referiert hier in n. 5 kurz die Lehre des hl. Thomas, wonach es zum Begriff der Instrumental-Ursache gehört, «per aliquid sibi proprium dispositive operari ad effectum principalis agentis». Dieser Begriff ist aber in einer actio creativa nicht real begründbar. Der Möglichkeit, dass ein Geschöpf auch nur als Instrument zu einer actio creativa erhoben werden könne, widerspricht die Unmöglichkeit, dass das Geschöpf in einer solchen Handlung etwas aus seinem Eigenen dispositive mitwirken könne; für die spezifisch instrumentale Wirkweise ist also in diesem Falle überhaupt kein Platz. Suarez entzieht sich dem klaren Gedanken des hl. Thomas mit Hilfe seiner eigenartigen Vorstellung von der potentia oboedientialis activa, indem er sagt: «Haec ratio optima est in instrumentis naturae, quae per se ordinata, determinata et necessaria sunt ad suos effectus. In instrumentis autem divinis [man beeachte die für Suarez charakteristische Natur-Übernatur-Dialektik!] nullam vim habet illa probatio, quia verissimum est, instrumenta divina non esse determinata sed indifferentia et quasi universalia per potentiam oboedientialem: determinantur autem ad determinatas actiones [substantialiter divinas!] per divinam voluntatem et elevationem seu specialissimum concursum». –Nach verschiedenem Hin und Her kommt Suarez in n. 9 (die §-Nummern sind in der vorliegenden Ausgabe verdruckt) schließlich zu dem Satz: «contendimus, hanc actionem (sc. creativam) posse communicari instrumento creato per elevationem».

{18} S. G. E. Guhrauer, Gottfried Wilhelm Freih. v. Leibniz. Eine Biographie, Breslau v. J. (1842), 1. Bd. S. 23; vgl. Brief an Conring, (Gerbardt) I, 198.

{19} Rodericus de Arriaga S. J., Cursus philosophicus, Physica, disp. XI, sect. 5 (ed. IV. Lugduni 1653 p. 288 ss.); Thomas Compton Carleton S. J., Cursus philosophicus universos, Physica, diss. XXVII, sect. 7 (ed. III Antverpiae 1697. p. 316 s.). Die erste Auflage von Arriaga ist erschienen Antverpiae 1632, die von Compton ebenda 1648; die auf den Titelblättern verzeichneten Auflagenummern bezeichnen nur die vom Autor durchgesehenen, nicht die tatsächlich gedruckten Auflagen. Compton zählt a. a. O. in n. 4 unter den Bejahern der Frage: Utrum elevari aliquid possit ad creandum, außer Suarez und Arriaga noch die bekannten Namen aus der Jesuitenschule auf: Tannerus, Hurtado und Oviedo. –Eine direkte Parallele zu der Stellungnahme Leibnizens in dieser Frage bietet Jo. Bap. Ptolemaeus S. J. (= Tolomei), Philosophia mentis et sensuum (Rom 1596; s. Anm. 23), Theologia naturalis, diss. V, sectio 6.

{20} Ausg. Gerhardt IV, 148.

{21} v. Nostiz-Rieneck, a. a. O. S. 65f.

{22} Disp. 12, sect. 2, n. 1-9 (Ausg. Mainz 1600, p. 265 s). Der Abschnitt beginnt: «Ex Aristotele nullam causae in communi (!) definitionem habemus; posteriores vero Philosophi in ea assignanda laborarunt, ut» usw. – Diese Stelle hat Leibniz offensichtlich in Erinnerung gehabt. v. Nostiz-Rieneck übersieht sie und beschränkt sich darauf, dem polemischen Mire se effert Leibnizens das bescheidene «libentius tamen eam (sc. causam in communi) sic describerem» entgegen zu halten, womit Suarez nachher (l. c. n. 4) seine eigene und nicht bloß vermeintlich originale Definition einführt.

{23} Auf die Anregung Leibnizens, eine Geschichte der scholastischen Lehren zu schreiben, antwortete des Bosses am 16. Jan. 1708, das sei wegen der lückenhaften Bibliotheken nicht leicht: «interim Suario et Vasquio aliisque nonnullis contentos esse oportebit, qui in recensendis Scholasticorum veterum placitis eorumque progressu satis diligentes esse solent, quamquam non raro ea, quae acutissime ab illis data sunt, istis excidisse animadvertam» (IV 345). So hatte sich Leibniz schon in seiner Jugendzeit selbst beholfen, wie aus einer Bemerkung in dem Brief an Tolomei v. 6. Jan. 1705 hervorgeht: VII 466; vgl. VII 467. An letzterer Stelle dankt Leibniz höflich Tolomei für dessen Philosophia mentis et sensuum, die er eben durch die Vermittlung des P. des Bosses erhalten hat. Unter anderem lobt er an ihr die: «passim inspersae observationes ad Historiam philosophicam scholarum spectantes, qua hactenus cum damno caremus». Sonderbarerweise enthält aber gerade Tolomeis Compendium vernünftiger Gedanken über Gott, Welt usw. außerordentlich wenige Hinweise auf die Lehrmeinungen der mittelalterlichen Scholastiker. Es ist ganz aktuell eingerichtet und berücksichtigt mit Vorliebe die damals die Welt bewegenden Neuerungen in der theoretischen Physik. Das Erste, was die offizielle Approbatio von dem neuen Werk zu rühmen weiß, ist: «ibi enim philosophica acumina mathematicis demonstrationibus mixta». Die von Leibniz erwähnten observationes ad Historiam philosophicam scholarum spectantes sind daher vor allem, auf die ausgedehnten Auseinandersetzungen mit den physikalischen Theorien des Cartesius, Gassendi, Fabri u. a. zu beziehen; vgl. besonders darin die Diss. IV-VIII der Physica generalis (in der vorliegenden Ausgabe, die wahrscheinlich –es fehlt das Titelblatt– die von Augsburg-Dillingen 1698 ist, p. 346 ss.).

[In: Spanische Forschungen der Görres-Gesellschaft I, Aschendorff, Münster 1928, pp. 251-325.]