Nicole Holzenthal
Einführung: Der philosophische Materialismus und
Der Mythos der Kultur von Gustavo Bueno
Der Mythos der Kultur, Peter Lang, Bern 2002, S. 9-29
Der Leser hält die erste deutsche Übersetzung eines Buches des spanischen Philosophen Gustavo Bueno (*1924 in Santo Domingo de la Calzada, La Rioja) in der Hand. Der 1996 erstmals erschienene Essay El mito de la cultura. Ensayo de una filosofía materialista de la cultura (zur Zeit der deutschen Übersetzung liegt die sechste spanische Auflage vor) muss als Teil eines komplexen philosophischen Systems gesehen werden. Der von Gustavo Bueno und seinen Mitarbeitern ausgearbeitete philosophische Materialismus umfasst alle Teilbereiche der Philosophie, betritt die unterschiedlichsten Gebiete der Realität und des Wissens - wobei die Philosophie als ein Wissen «zweiten Grades» (s.u.) verstanden wird. Die nun vorliegende Arbeit ist ein Versuch, mit Hilfe des durch den eigenen Ansatz bereitgestellten Instrumentariums die Idee der Kultur aufzuschlüsseln - und dies in Form eines Essays, das zwar nicht ausschließlich an das Fachpublikum gerichtet ist, sich aber aufgrund der Verworrenheit der Idee der Kultur dennoch einer streng strukturierten, dialektischen Vorgehensweise bedienen musste und von daher bei der Lektüre größter Aufmerksamkeit bedarf. Wir halten diesen Text als erste Buch-Übersetzung trotzdem für geeignet, einen Zugang zu dem besagten philosophischen Ansatz zu ermöglichen. Denn das Buch ist im Vergleich zum restlichen Werk in einem relativ einfachen, fast gesprochenen Stil verfasst und zeichnet sich zudem dadurch aus, besonders stark (und zwar auf eine kritische Weise) auf deutsche Philosophietraditionen einzugehen und sich mit ihnen auseinander zu setzen - wodurch sicher auch das Interesse deutschsprachiger Kulturkritiker, Kulturwissenschaftler und -philosophen angeregt wird. Dieser Essay eröffnet einen neuartigen Zugang zu einem komplexen Problemfeld, das mit dem vermeintlich einfachen Wort in aller Munde - Kultur - umgriffen wird.
Es handelt sich hier (vor allem im II. Kapitel) um eine Kritik an der deutschen Kulturphilosophie und an deren (besonders politischen und gesellschaftlichen) Konsequenzen, eine Kritik, die einerseits genau die Positionen der behandelten Philosophen kennt und unter die Lupe nimmt, andererseits aber dank des distanzierten Standpunktes und der eigenen (philosophisch-materialistischen) Terminologie den Vorzug hat, nicht den gedanklichen und terminologischen Selbstverständlichkeiten zu verfallen, zu denen heute viele Deutschsprachige beim Betrachten der eigenen Tradition in diesem Themenbereich neigen. Mit Hilfe eines stichhaltigen philosophischen Systems wird in diesem Essay ein vielbehandeltes Thema in seine Bestandteile zerlegt und wieder zusammengesetzt.
Die Kulturphilosophie ist zweifelsohne von deutscher Herkunft - auch wenn sie von Denkern vieler anderer Nationen aufgegriffen, weitergetragen, kritisiert und umgearbeitet wurde. Was kann nun das kulturphilosophische Buch eines spanischen Philosophen Neues bringen? Gustavo Bueno beurteilt die verschiedenen kulturphilosophischen Ansätze nicht pauschal, sondern legt mit kongruenten Kriterien die ontologischen, die gnoseologischen sowie die praktischen Aspekte dar und untersucht die materiellen und formellen Grundlagen der «Kultur» - wobei Kultur hier sowohl als «Konzept» (Gegenstand der Kulturwissenschaften) als auch als «Idee» (Gegenstand der Kulturphilosophien) betrachtet wird. Im Gegensatz zu seinem in Deutschland viel bekannteren Landsmann José Ortega y Gasset, der bezüglich dieses Themas bestimmten deutschen Traditionen ganz treu blieb und seine Aufgabe darin sah, diese nach seinen Deutschlandaufenthalten als die deutsche Philosophie in Spanien einzuführen,{1} kennt Gustavo Bueno die gesamte spanische Philosophie-Tradition und erkennt auch den Wert einiger dieser Ansätze an; wo nötig, tauchen in seinem Text diese spanischen Philosophen, neben denen vieler anderer Nationalitäten, auf - was leider unter spanischen Autoren (wohl aus Gründen des Prestiges) nicht immer selbstverständlich ist.
Nicht nur aufgrund seiner hohen Auflage und dank der reichhaltigen Diskussionen, die es in Spanien ausgelöst hat (es sei beispielsweise auf das 1999 erschienene Buch des «Phänomenologen» Javier San Martín Teoría de la cultura{2} verwiesen), lohnt es sich für deutschsprachige Denker das Buch Der Mythos der Kultur zu lesen, zu rezipieren, ja zu kritisieren. Die vorliegende Arbeit eignet sich gleichzeitig als ein erstrangiger, kritischer (vielleicht sogar polemischer) Beitrag zur aktuellen kulturphilosophischen Debatte - die sich etwa anlässlich des Streits um die sogenannte «Leitkultur» als heute recht lebendig erweist. Gustavo Bueno nutzt hier sein breit gefächertes und zugleich tiefgehendes Wissen, seine Fähigkeit der kritischen Analyse und seine Kapazität zur Synthese aus, um an dieses Thema heranzugehen und die ihm zugrundeliegenden wissenschaftlichen Konzepte und Kategorien und die dort auftauchenden philosophischen Ideen aufzuschlüsseln. Dieser kulturphilosophische Essay muss in einem weiteren Zusammenhang gesehen werden, der in dieser Einführung nur in sehr groben Zügen vorgezeichnet werden soll. In einer späteren Publikation wird die Übersetzerin den Versuch starten, die hier angesprochenen Punkte weiter auszuführen, die Kulturphilosophie Gustavo Buenos in den Kontext der (spanischen und der «mitteleuropäischen») Ansätze zur Kulturphilosophie zu setzen und eine kritische Auseinandersetzung durchzuführen.
Versuch einer Kurzbeschreibung des philosophischen Materialismus
Der Philosophieprofessor José Ferrater Mora (1912-1991) schrieb in seinem philosophischen Wörterbuch über den Ansatz des Philosophen Gustavo Bueno und dessen philosophisches System:
Bueno kritisiert verschiedene Lehren - den Mechanizismus, den Subjektivismus, Empiriokritizismus, Idealismus, den neutralen Monismus - als formalistische Manifestationen. Die Idee der Materie ist letztendlich eine kritische Idee und ist die Äußerung einer philosophischen Aktivität, die ihrerseits sowohl theoretisch als auch praktisch ist.{3}
Der Belgier François Aubral charakterisierte Gustavo Buenos Philosophie in Philosophes{4} folgendermaßen:
Gustavo Bueno (1924): Spanischer Philosoph, hat in Salamanca und in Oviedo unterrichtet, an deren Universität er Professor ist. Zur Zeit ist seine Stellung die einer kleinen Insel, die in dem allgemein monotonen Universum des spanischen Denkens hervortritt.[{5}] Charakteristisch für Bueno ist sowohl sein Bestreben, die akademische Philosophie zu verteidigen und seine entschieden marxistische Orientierung als auch sein vorherrschend systematischer und gleichzeitig polemischer Anspruch. Was ist die Ethnologie? Wo liegen ihre Grenzen? Was ist das menschliche Wissen und wo liegen seine Schranken? In unserer Zivilisation agieren Mythen, Institutionen und kulturelle Gebilde. Seine Aufgabe ist es, diese Gegebenheiten zu messen, zu situieren, zu klären, ‹zermalmen› oder ihre wissenschaftliche Neutralität zu erhalten, ohne dabei einer benutzbaren Ideologie zu verfallen, und dagegen Material für weitere Analysen bereitzustellen. Dies ist eine kritische Aufgabe, begleitet von der rigorosen Erarbeitung gnoseologischer Modelle über das Funktionieren der Wissenschaften wie beispielsweise das des ‹kategorialen Abschlusses›. Er ist ein kontroverser, nicht immer gut verstandener Denker, einer der originellsten und tiefgehensten der aktuellen spanischen Landschaft.
Der mittlerweile emeritierte Professor («catedrático emérito honorífico») der Universität von Oviedo (Asturien), Gustavo Bueno Martínez, arbeitet an und mit einem philosophischen System, dem er - und seine Mitarbeiter, wie er gerne zu betonen pflegt - den Namen des «philosophischen Materialismus» gegeben hat. Behandeln wir zunächst die Bestandteile dieses Namens:
1. Materialismus steht hier nicht allein in Anlehnung an den oder in Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus oder späterer Materialismen - im Besonderen dem «Dialektischen Materialismus» (Diamat) der Sowjetunion, dessen «Monismus» Bueno scharf kritisiert und dem er wiederum einen materiellen «Pluralismus» entgegenstellt. Gleichzeitig lehnt aber auch Bueno dasjenige ab, was diese vorherigen Materialismen negieren: den «Geist» [Espíritu] als «causa agens» oder «forma separada activa».{6} Materialismus wird hier in erster Linie, im Sinne eines streng philosophisch ausgearbeiteten Verständnisses von Materie, aristotelisch-scholastisch im Gegensatz zu Form benutzt. Entgegen des weitverbreiteten allerweltsphilosophischen Verständnisses von «materialistisch» als allein demjenigen, was gegenständlich-materiell, körperlich (oder gar finanziell) ist, unterscheidet Gustavo Bueno drei Arten der Materie (spezielle Ontologie) und eine allgemeine Idee der Materie (generelle Ontologie). Diese philosophisch-materialistische Ontologie wurde vor allem in den Ensayos materialistas{7} ausgearbeitet. Für deutschsprachige Leser bisher zugänglich wurde dieser Ansatz in seinem in der Europäischen Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften (von Hans Jörg Sandkühler, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1990) publizierten Artikel «Materie» (Bd. 3, S. 281-308) umrissen: Die erste Art der Materialität (M1) umfasst grob die der physischen Phänomene, die zweite (M2) die der psychischen und der gesellschaftlichen Phänomene und die dritte (M3) diejenige der logischen oder theologischen Phänomene. Von den drei Arten her versucht der philosophische Materialismus, die Ideen der «Welt», der «Seele» und «Gottes» neu auszulegen, die im Mittelalter, bei Christian Wolff und schließlich auf seine Art bei Kant auftauchten. Allerdings werden aus diesen metaphysischen Ideen nun «Arten» [géneros] einer Idee: der Idee der Materie (Mi). Im Gegensatz zu Georg Simmels «Reichen» und Karl Poppers «Welten», welche jeweils «substanzialisiert» gedacht werden und von daher «metaphysische» Entitäten darstellen, die zumindest so behandelt werden, als seien sie voneinander trennbar, sind bei Bueno die «Arten der Materialität» nicht als abgeschlossene Bereiche des Seins konzipiert. Sie sind zwar dissoziierbar [disociables], aber dennoch untrennbar [inseparables]. Die - in Anlehnung an Wolffs Unterteilung der Ontologie in die besagten zwei Bereiche - der «generellen Ontologie» angehörige Idee der «Materie» (Mi) entspräche in der klassischen (nicht-materialistischen) Metaphysik etwa der Idee des «Seins». Diese allgemeine Idee der Materie bei Bueno darf allerdings selbst weder als Entität betrachtet werden (da sie sonst «substanzialisiert» würde und in die «Metaphysik» zurückfiele), noch als Gemeinsamkeit der Inhalte der verschiedenen Arten; sie ist vielmehr der Zielpunkt des als «Regressus» bezeichneten Vorgangs, der historisch von den materiellen Realitäten (M1, M2, M3) ausgeht - eine philosophische Idee.
2. Philosophisch ist Buenos Materialismus, insofern er zu anderen materialistischen und zu allen sonstigen - besonders den von ihm «spiritualistisch» (s.u.) genannten - sich ihm entgegensetzenden philosophischen Ansätzen in dialektischer Auseinandersetzung, Abgrenzung und Gegenüberstellung steht. Diese Ansätze nimmt der philosophische Materialismus auf, er definiert sich von ihnen aus und grenzt sich gleichzeitig gegen sie ab. Indem er zu anderen Philosophien Stellung bezieht bzw. - wo möglich - einen klaren eigenen Standpunkt einnimmt, ist der philosophische Materialismus grundsätzlich dialektisch. Ja, in einigen Punkten neigt er gar dazu, mit anderen in Polemik zu treten - eine Tendenz, die dem Philosophen Gustavo Bueno selbst und seinen Kennern durchaus bewusst ist: Im Bereich der philosophischen Ideen wäre ein konfliktfreies Harmoniebestreben nicht realisierbar, gar fehl am Platz. Philosophie betreiben impliziert, eine Position einzunehmen und mit anderen zu disputieren. Buenos philosophischer Materialismus zeichnet sich dadurch aus, dass er (entgegen aller gegenwärtigen a-systematischen Tendenzen bzw. gegen die heute weitverbreitete Tendenz, die Systematik als solche abzulehnen) ein philosophisches System darstellt, das Ideen, Konzepte und Kategorien hinsichtlich ihrer Verbindungen («Symploké» der Ideen), hinsichtlich ihrer extensionalen Begrenzung (Abgrenzung, Unterscheidung) voneinander und hinsichtlich ihrer intensionalen Einschränkung (Umschreibung) untersucht.
Der philosophische Materialismus schreibt den beiden theoretischen Perspektiven, der Ontologie und der Gnoseologie, einen wichtigen Stellenwert zu.
Einen der zentralsten Punkte in Buenos Ontologie der Materie stellt die Verteidigung des Pluralismus dar; genauer gesagt: seine Entgegenstellung zum Monismus. Also wäre «materiell» hier weitestgehend gleichzusetzen mit «plural». Der von Platon aufgestellte - für Gustavo Bueno mitunter dessen wichtigster - Gedanke, die Ideen seien miteinander in einer «Symploké» verbunden, einem Gewebe aus Ideen mit der Faustregel: «Nicht alles ist mit allem verbunden, sondern einige Dinge bzw. Ideen mit bestimmten anderen», wird zu einem Hauptpfeiler des philosophischen Materialismus. Die Symploké wendete sich, historisch betrachtet, einerseits gegen Pythagoras´ Aussage «Alles steht mit allem in Verbindung» und andererseits gegen Demokrits «Nichts steht mit nichts in Relation». Dennoch betrachtet Bueno Demokrit als einen der beiden ersten großen «Materialisten», der zweite sei Platon. Doch der Materialismus Demokrits sei grob, korporeistisch: Die Materie beschränkt sich bei Demokrit auf, wie Bueno es nennen würde, die erste Art der Materie, M1: die körperlich-physische Materie - selbst wenn ihre Partikel, die Atome, noch so klein sind. Bei seiner Negation der Relationen zwischen ihnen räumt Demokrit lediglich eine äußere Relation ein: Die Dinge verbinden sich allein äußerlich.
Dagegen habe Platon einen pluralistischen Materialismus aufgestellt: die Ideen (M3) sind plural vorhanden und stehen aufgrund der Symploké miteinander in Relation, und zusätzlich existieren Materie M2 und M1, auf die jene Ideen aufbauen. Denn gäbe es nur körperliche Materie, die allein in äußerlicher Relation zueinander stünde, dann wäre es unmöglich, zu denken.
Wichtig für ein Verständnis des philosophischen Materialismus ist, wie gesagt, jedoch auch die Gegenüberstellung zu dem, was Bueno «spiritualistische» Ansätze nennt, gemeint ist die Philosophie des Geistes. Jede materielle Philosophie lehne die Existenz von solchen «geistigen» Inhalten ab, die zu exenten (freistehenden) Entitäten «substanziali-siert» werden - eine solche «Substanzialisierung» stelle ein reines Gedankenexperiment bzw. eine Grenz-Idee dar -, die meist aus der Verselbständigung einer Metapher entstanden ist. Als Beispiel kann das «Weltbewusstsein» oder «der absolute Geist» angeführt werden oder (für unseren Fall interessant): eine «Kultur»-Idee, nach der Kultur verstanden wird als ein selbständiger Organismus, der jenseits aller operativen Subjekte, in Absehung von Gesellschaften und Staaten funktionieren («leben») soll.
Bisher haben wir den Blick auf die ontologischen Aspekte des Ansatzes gerichtet. Nun schauen wir auf die Aspekte, die Gustavo Bueno selbst «gnoseologisch» nennt, um anschließend mit Aspekten zu schließen die eine praktische Dimension eröffnen.
Gnoseologisch betrachtet ist die Philosophie vor allem ein Wissen «zweiten Grades». Sie ist somit keine Wissenschaft - braucht dies aber auch nicht zu sein, um ihre kritischen Funktionen zu erfüllen: Die innere und konstante Beziehung der Philosophie zu den Wissenschaften, seit ihrer Entstehung bis heute (geschichtliche Relation), ist, dass sie das gleiche methodologische Instrumentarium benutzt wie diese: die kritische Vernunft (methodische Relation), und sie durchläuft auch den Bereich, der kognitiven Erfahrung des Menschen (systematische Relation). «Ersten Grades» sind jedoch die Einzelwissenschaften, insofern sie jeweils einen abgeschlossenen Bereich behandeln und die Kategorien und Konzepte überschreitende Ideen außen vor lassen müssen (aufgrund des «kategorialen Abschlusses» der jeweiligen Einzelwissenschaft). Mit den Ideen (und dem jeweils den abgeschlossenen Bereich Überschreitenden) beschäftigt sich die Philosophie. Ferner ist die Philosophie: dialektisch (d.h. nicht dualistisch und nicht metaphysisch), und sie ist akademisch (in dialektischer Gegenüberstellung zu mundanen Formen der Philosophie) - in der Tradition seit Platon sind Philosophen sozusagen «Künstler der Vernunft» und operieren mit der ursprünglich von der Geometrie herkommenden Systematik. (Mundanphilosophien sind dagegen diffuse Philosophien, spontan und aufgelöst im Bewusstsein aller Menschen, nach dem Motto: «Alle Menschen sind Philosophen.») Die Philosophie im strengen Sinn ist letztendlich «totalisierend» (im Gegensatz zu der schwachen Philosophie, die partiell sein will) und sowohl «theoretisch» als auch «praktisch» (strukturell und auf dialektische Weise).
Die praktische Dimension der Philosophie in diesem Sinne schließlich wird in einem Zitat über die heutige Funktion des Philosophen im Prolog zu El sentido de la vida (1996) deutlich. Dort schreibt Bueno mit einem leicht ironischen Unterton:
Nun wird die ‹abstrakte Philosophie› unabdingbar, und sei es nur als eine kathartische Disziplin, die fähig ist, die anwachsende Menge an Dummheiten und Tautologien zu lindern, die zwangsläufig durch diejenigen hervorgebracht werden, die sich gezwungen sehen, spontan mit ‹abstrakten Ideen› wie ‹Wissenschaft›, ‹Kultur›, ‹Religion›, ‹Freiheit›, ‹Gott› oder ‹Sinn des Lebens› umzugehen. Wir wissen, dass die große Mehrheit der Gesellschaft nicht in der Lage ist, eine abstrakte Analyse der Wirklichkeit durchzuführen. Aber wir glauben gleichzeitig zu wissen, dass ohne die Aktivität einer verstreuten Minderheit (vielleicht 1% oder 0,5% der Bevölkerung?), die fähig ist, sich mit der ‹Realität›, mit diesen Ideen mit der charakteristischen Disziplin einer philosophischen und abstrakten Theorie auseinander zu setzen, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit dann, mangels einer jeglichen inneren Kritik, auf der öffentlichen Ebene auf die niedrigsten Stufen des Infantilismus absteigen würde.{8}
Da die Aufgabe, dieses philosophische Werk sowohl philosophiehis-torisch als auch systematisch in seinen Zusammenhang zu setzen, in diesem Rahmen nicht geleistet werden kann, sei hier nur eine kurze Anmerkung zu Gustavo Buenos Beschäftigung mit philosophischen Traditionen und mit wissenschaftlichen und theoretischen Systemen gemacht. Der Philosoph Gustavo Bueno setzt in medias res an, d. h. er geht auf die materielle Wirklichkeit (in ihren drei Arten der Materialität) zu. Die Charakteristika seines Systems haben zur Folge, dass er fähig ist, neben einer notwendigen Abstraktheit bei der Behandlung von komplexen philosophischen oder wissenschaftlichen Thematiken, dagegen dann, wenn es um konkrete Dinge geht, eine recht klare Position einzunehmen und sie konkret zu formulieren vermag. Kurz: Der Grad der Abstraktheit einer philosophischen Aussage hängt jeweils von dem behandelten Material ab. Dieses Vorgehen hat jedoch keine rein didaktische Motivation (auch wenn dies eine Nebenwirkung sein kann), Bueno betrachtet es als Aufgabe eines Philosophen, sich mit der Realität (mit dem ontologischen Material) auseinander zu setzen. Eben dieser Sachverhalt setzt einen Philosophen in die (leider oft als Dichotomie verstandene) Dialektik zwischen mundaner und akademischer Philosophie.
Gustavo Buenos Philosophie ist also zunächst sehr offen, jedoch genauso gnadenlos radikal und unverschämt ablehnend gegenüber denjenigen Ideenkonstellationen, die rational unhaltbar sind. Anhand einer (aus der Distanz witzigen) Anekdote soll Buenos Position zu verschiedenen philosophischen Traditionen veranschaulicht werden: In der Franco-Zeit bekam ein Gymnasiallehrer, der als ehemaliger Schüler des Universitätsprofessors von Oviedo dessen Materialien im Unterricht benutzte, einen Bescheid der Guardia Civil, er solle sich in der Kaserne präsentieren. Dort wurde er von einem der Landpolizisten gefragt: «Gustavo Bueno ist Marxist, nicht wahr?» Der Bedeutung dieses Verdachts durchaus bewusst, antwortete der gewitzte Gymnasiallehrer, (die Unkultur seines Gegenübers schamlos ausnutzend): «Gustavo Bueno ist doch Epikuräer!!».
Gustavo Bueno ist philosophiegeschichtlich schwer einzuordnen, da er sich permanent mit der gesamten westlichen Philosophie beschäftigt. Am stärksten geprägt hat ihn höchstwahrscheinlich die Beschäftigung mit den Vorsokratikern, mit Platon und Aristoteles, mit Thomas von Aquin, mit der spanischen Scholastik, mit der deutschen Philosophie, besonders Kant, mit Marx und Engels ... - was aber nicht bedeutet, dass er beispielsweise Hegel, Haeckel, Simmel, die französischen Strukturalisten oder Existenzialisten, die nordamerikanischen Kulturanthropologen oder Analytiker oder die britische Philosophie oder... (ebenso viele Einzelwissenschaften) nicht genauso intensiv studiert hätte. Ihn also nach den üblichen Schemata als Platonist, als Aristoteliker, als Marxist oder Hegelianer, Kantianer, Scholastiker etc., etc. zu bezeichnen wäre jeweils reduktionistisch gedacht. Am fairsten wird es wohl sein, ihn als (materialistischen) Philosophen zu bezeichnen - als philosophischen Materialisten.
Der Essay Der Mythos der Kultur
Die Stellung des Essays innerhalb des bisher publizierten Werks
Um dem deutschsprachigen Leser eine etwaige Kontextualisierung von Der Mythos der Kultur in dem bisher von Gustavo Bueno publizierten Werk zu ermöglichen und eine Vorstellung der Schriften zu vermitteln, seien hier zunächst einige Bücher Buenos zu den dem hiesigen verwandten Bereichen - das heißt der Anthropologie und Ethnologie, Philosophie und Bildung, Moralphilosophie und Religionsphilosophie - angeführt:
Etnología y utopía. Respuesta a la pregunta: ¿Qué es la Etnología?{9}, ein leider vergriffenes Buch über die Ethnologie. Nosotros y ellos - ensayo de reconstrucción de la distinción entre emic y etic de Pike{10}, aufgrund der breiten Anwendung dieser Unterscheidung in vielen Einzelwissenschaften ist diese Schrift nicht nur für Philosophen interessant. ¿Qué es la filosofía?{11} ist ein Büchlein, in dem der Autor versucht, der Philosophie im Rahmen des Wissens ihren Standort, ihren Stellenwert und ihre Rolle zuzuweisen. El sentido de la vida - seis lecturas de filosofía moral{12} ist eine Aufsatzsammlung zu Themen wie Freiheit, Person usw. El animal divino - ensayo de una filosofía materialista de la religión{13} stellt eine recht dicht geschriebene Abhandlung zur Religionsphilosophie mit sehr originellen Thesen dar.
Obwohl sich Der Mythos der Kultur vorwiegend im Bereich der Ontologie bewegt, ist Gustavo Bueno vor allem als Wissenschaftsphilosoph bekannt. Der in Absetzung von der Epistemologie des 20. Jahrhunderts (im Sinne einer Lehre von der individuellen Wahrnehmung) von ihm als «Gnoseologie» bezeichnete wissenschaftsphilosophische Ansatz wird in einem Projekt niedergeschrieben, das letztendlich 15 Bände umfassen soll. Bisher sind fünf Bände dieser La teoría del cierre categorial{14} erschienen. Die neueste Buchveröffentlichung von Gustavo Bueno behandelt die Institution Fernsehen unter philosophischen Gesichtspunkten: Televisión: Apariencia y Verdad{15}.
Auf Deutsch sind bisher in Hans Jörg Sandkühlers Europäischen Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften die Artikel Buenos «Ganzes/Teil», «Holismus», «Materie» und «Naturwissenschaften» herausgekommen.{16} Zur Lage der spanischen Philosophie hat Volker Rühle einen zu diesem Anlass geschriebenen Artikel Gustavo Buenos publiziert: «Philosophie heute. Antworten auf Fragen von Volker Rühle».{17} Da beide Veröffentlichungen mittlerweile vergriffen sind, können dank der freundlichen Genehmigung des Meiner Verlags einerseits und des Herausgebers Herrn Dr. Rühle andererseits die Artikel Buenos im Internet unter http://www.fgbueno.es/ger gelesen werden.
Der Mythos der Kultur ist seinerseits als erster Teil von zweien konzipiert. Zu dem ergänzenden Thema Der Mythos der Natur hat Gustavo Bueno im Jahr 1998 an der Universität von Oviedo ein Doktorandenseminar gehalten, seine Aufzeichnungen hat er bisher jedoch leider noch nicht zu einem Buch bearbeitet.
Strukturen der Materialanordnung innerhalb des Essays
Man könnte den Essay Der Mythos der Kultur nach dem Kriterium historisch/systematisch in zwei Teile unterteilen. Historisch wären die Kap. I, II und teilweise V, systematisch dagegen die Kapitel III, IV, V, VI, VII, VIII, IX und die Schlussbemerkung. Diese Sichtweise kann den Eindruck wecken, dass hier das Historische gegenüber dem Systematischen in den Hintergrund tritt. Eine alternative Einteilung könnte mittels der Unterscheidung kulturphilosophisch/kulturwissenschaftlich versucht werden.
Gustavo Bueno selbst erwähnt jedoch drei Betrachtungsweisen, denen er einzelne Kapitel widmet: die ontologische, die gnoseologische und die praktische Perspektive. Von den praktischen Aspekten der Abhandlung her betrachtet rücken die ontologische und die gnoseologische Betrachtung näher aneinander und erscheinen in Absetzung zu den praktischen Aspekten als theoretische Betrachtungsweisen des Problems. Allein aufgrund dessen, dass weder gnoseologische Überlegungen ohne eine ontologische Grundlage funktionieren, noch umgekehrt ontologische Einteilungen einer gnoseologischen Basis entbehren können (ähnlich wie Form und Inhalt voneinander abhängig sind) und dass genauso wenig ‹theoretisch› und ‹praktisch› voneinander abzulösen sind - kurz: da diese Aspekte jeweils in dialektischer Relation zueinander stehen -, erscheint diese Unterteilung vielleicht zunächst sehr künstlich. Ja, sie kann die Kapitel des Buches auch nicht scharf voneinander abtrennen. Die Unterscheidung ist jedoch ausreichend, um den Leser zu orientieren und ihm eine Übersicht zu verschaffen, die es ihm erlaubt, bei der Lektüre zu wissen, wo er sich befindet.
Bei einer Total-Zuordnung allein nach dem Kriterium ontologisch/gnoseologisch können der ontologischen Betrachtungsweise die Kapitel I, II, IV (außer dessen 3. Unterkapitel), V, VII (außer dessen 4. Unterkapitel), in VIII das 5. Unterkapitel zugeordnet werden. Der gnoseologischen Betrachtungsweise unterliegen die Kapitel III, in IV das 3. Unterkapitel, VI, in VII das 4. Unterkapitel und VIII (außer dem 5. Unterkapitel).
Legen wir auf diese Zweiteilung zusätzlich die Unterscheidungsfolie theoretisch/praktisch, dann zeichnen sich als solche Kapitel, die praktische Aspekte hervorheben, IV{18} und VII ab - wobei letzteres vorwiegend ontologisch abhandelt (ontologisch-praktisch wären im VII. Kapitel das 2. Unterkapitel: «Verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks ‹kulturelle Identität›», das 3. Unterkapitel: «Die Idee der ‹kulturellen Identität› ist nicht einfach, sondern komplex» und alle ab dem 5. Unterkapitel: «Die Identität einer Kultur als dynamisches System» bis zum 8. Unterkapitel: «Die Kultur und der Mensch») und nur in einem Abschnitt gnoseologisch herangeht (gnoseologisch-praktisch: in VII das 4. Unterkapitel: «Unterscheidung von drei konstituierenden Linien der kulturellen Identität des ‹komplexen Ganzen› und ihr Nutzen zur Systematisierung verschiedener Kulturtheorien»).
Die hier nicht aufgeführten Kapitel, die Vorbemerkung, das IX. Kapitel (letzteres ist eventuell als ontologisch zu betrachten, weil es sich vor allem mit dem Nichtexistieren der Universalkultur beschäftigt) und die Schlussbemerkung, können keinem dieser Kriterien hinreichend zugeordnet werden (selbst wenn sie tendenziell mehr ontologische Betrachtungen beinhalten mögen), sie behandeln das Zusammenspiel von ontologischen, gnoseologischen und praktischen Faktoren.
Jeweils den roten Faden innerhalb der Aspekte in den Blick nehmend, kann festgestellt werden: Innerhalb der ontologischen Betrachtungsweisen zeichnen sich drei Schritte der Entwicklung der Idee der objektiven Kultur ab, die gleichzeitig schrittweise von Theorie zu Praxis überführen.
1) Die Idee der Kultur des Subjekts (s.u. «subjektual») und die mittelalterliche Funktion der Gnadenidee fließen in der Idee der «objektualen» (s.u.) Idee in der deutschen Philosophie zusammen.
2) Von der deutschen Philosophie geht die Idee der objektualen Kultur über in die Politik (besonders durch Bismarcks Kulturpolitik des «Kulturkampfs»), wird also von der Theorie in die Praxis getragen.
3) Die permanente Praxis der kulturpolitischen Entwicklungen bringt den Gedanken der «kulturellen Identität» hervor, der bestimmten Interessengruppen praktische Nutzen bringt.
Im Rahmen der gnoseologischen Betrachtung zeichnet sich folgende Struktur ab: In einer Kulturwissenschaft wird die Kultur als wissenschaftliches Konzept, nicht als philosophische Idee behandelt. Das Kapitel III handelt von dem geschichtlichen Entstehen der Kulturologie (Ostwald und Tylor) als einer Wissenschaft, welche die Idee der objektualen Kultur als ein wissenschaftliches Konzept auffasst. Bueno problematisiert hier, inwiefern die Kultur ein Ganzes ist: attributiv (als T) oder aber distributiv (als 𝔗) - ein Problem, das in VIII wieder aufgegriffen und weitergeführt wird. In VI dagegen betrachtet er die Kultur bezüglich ihrer Teile, indem er eine gnoseologische Tabelle (Matrix) einführt, welche die Relationen der Kulturteile zueinander darstellen soll. Ein kurzer ironischer, fast sarkastische Abschnitt (IV 3. Unterkapitel) hat ebenfalls ein vorwiegend gnoseologisches Anliegen: Er polemisiert über das akademische Gremieninteresse an der Kultur.
So wird das Thema nur in knapp → des Textkorpus unter einem explizit gnoseologischen Blickwinkel behandelt. Dennoch durchziehen gnoseologische Überlegungen implizit das ganze Werk.
Die Übersetzung
Die Tradition
Man mag denken, dass es keine Tradition der Übersetzung philosophischer Texte aus dem Spanischen gebe. Das ist aber völlig falsch: Gotthold Ephraim Lessing (1752){19} begann seinen intellektuellen Werdegang mit einer Übersetzung von Juan Huarte de San Juan (Examen de Ingenios para las Ciencias, 1575) und Arthur Schopenhauer (1832){20} mit einer Übersetzung von Balthasar Gracián (Oráculo manual y arte de prudencia, 1637).
Auch wird mit der Übersetzung von Der Mythos der Kultur eine neue Tradition eingeläutet: Das Werk des spanischen Philosophen Gustavo Bueno wird nun auch in andere Sprachen übersetzt. Bereits im nächsten Jahr ist mit einer Übersetzung des Buches ins Russische und Ukrainische zu rechnen. Seine Abhandlung über das Fernsehen wird zur Zeit ins Italienische übersetzt.
Probleme der Übersetzung und deren Lösung
Die Aufgabe des Übersetzers eines philosophischen Textes besteht unseres Erachtens nicht bloß darin, den Text in eine andere Sprache zu übertragen, sondern ihn zunächst selbst vollständig zu verdauen (was eine genaue Auseinanderlegung und -setzung mit den Ideen, den Worttraditionen und dem System des Autoren erforderlich macht) und dann in der anderen Sprache neu zusammenzusetzen. Ist der Schwierigkeitsgrad bei theoretischen Texten schon hoch, ist er noch höher bei einem (neuen) philosophischen System. Das Problem multipliziert sich bei einem komplexen philosophischen System (wie dem philosophischen Materialismus), das weder einzelwissenschaftliche Betrachtungen noch abstrakteste, philosophische Überlegungen außen vor lässt - wobei der Stil und die Syntax des geschriebenen Textes oft unter der Komplexität des Denkens Schaden erleidet. Auch stellen sich manche Übersetzungsschwierigkeiten (bei philosophischen Texten) schließlich als philosophische Probleme heraus. Oft muss bei deren Lösungssuche der Vergleich mit anderen Übersetzungen philosophischer Texte herangezogen werden, da sich die vorhandenen Wörterbücher häufig als unzureichend herausstellen.
Sobald aber nach Anwendung der üblichen Methoden noch Unklarheiten aus dem Text hervortraten und selbst lange Rationalisierungsversuche zu keinem eindeutigen Ergebnis führten, konnte bei dieser Übersetzung eine glückliche Gegebenheit genutzt werden, wie sie nur in wenigen Fällen möglich ist: das Gespräch mit dem Autor. Das bisherige Fehlen einer Übertragung des Buches in eine andere Fremdsprache konnte so durch eine viel günstigere Gelegenheit, den Autor selbst zu befragen, sicherlich mehr als ausgeglichen werden. Das Gespräch auf diese Problemstellen gelenkt, konnte in den meisten Fällen eine momentan recht befriedigende Lösung erarbeitet werden. Gustavo Bueno hat sich sehr große Mühe gegeben, die Probleme, die sich im Rahmen der deutschen Sprache bei der Wiedergabe stellten, nachzuvollziehen und durch erweiterte Erklärungen Hilfestellungen zu geben.
Da sich im Originaltext viele Redewendungen, Termini, Anspielungen und Nuancen finden, die selbst dem spanischen Muttersprachler leicht entwischen, bestand eine der größten Schwierigkeiten nicht nur darin, diese aufzuspüren und richtig zu erfassen, sondern vor allem in der verzwickten Herausforderung, sie gut deutsch wiederzugeben. Die entsprechenden Stellen wurden zunächst sehr nah am Original übersetzt, dann wurde das im Deutschen Unzulässige in der deutschen Phraseologie anders wiederzugeben versucht oder sonst [in eckigen Klammern] durch Einschübe erklärt.
Ohne die Schwierigkeiten im Einzelnen aufzuführen und den Leser zu langweilen, scheint es allerdings angebracht, im Folgenden die wichtigsten und problematischsten Termini und deren endgültige Übertragung zu nennen, um den kritischen Lesern in etwa die Gründe für die momentane Übersetzungsvariante nachvollziehbar zu machen:
Cultura bedeutet je nach Sprachkontext sehr unterschiedliche Dinge. Redet etwa ein nordamerikanischer Verhaltensforscher, ein Soziobiologe oder... von der culture, so meint er etwas völlig Anderes als beispielsweise ein deutscher Feuilletonist, wenn er von der Kultur handelt. Trotzdem wurde «Kultur» übersetzt, wenn im Originaltext «cultura» steht:
Wenn im spanischen Original «cultura» kleingeschrieben wird, was der Normalfall bei spanischen Substantiven ist, wird in der deutschen Übersetzung keine weitere Anmerkung gemacht. Handelt es sich aber um «Cultura», steht in der deutschen Version hinter Kultur ein [C], um diese Besonderheit hervorzuheben. Inhaltlich steht diese formelle Unterscheidung bei Gustavo Bueno für die o.g. Unterscheidung zwischen einem wissenschaftlichen Konzept und einer philosophischen Idee. Im Spanischen graphisch leicht durch Groß- und Kleinschreibung zu unterscheiden, bestand die Gefahr, diesen semantische Unterschied in der deutschen Übersetzung zu verlieren. Daher gilt: Hinter dem Wort Kultur steht dann [C], wenn es dem der Idee der Kultur entspricht. Dagegen wurde [c] für ein wissenschaftliches Konzept der Kultur nur dann in eckigen Klammern hinter das Wort «Kultur» gesetzt, wenn es im Zusammenhang sonst unklar wäre. Analoges gilt für andere Termini, wie beispielsweise «naturaleza» und «Naturaleza».
Wie bereits angedeutet, übernimmt Gustavo Bueno zunächst (von Alois Dempf) die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Kultur, um diese zunächst in «subjektualer» und «objektualer» Kultur aufgehen zu lassen und die Unterscheidung dann in der eigenen Dreiteilung in «intrasomatische», «intersomatische» und «extrasomatische» Kultur zu präzisieren. Absichtlich wurde die eigenwillige Adjektivbildung Buenos «subjetual» und «objetual» nah übersetzt. Denn etwa «subjektbezogen» wäre zu sehr von außen betrachtet - während «subjetual» neutral ist und weder eine Außen- noch eine Innenperspektive bevorzugt.
Bei der Übersetzung der meisten Fachtermini des philosophischen Materialismus wurden weiterhin lateinische, greco-lateinische oder altgriechische Fremdwörter verwendet. Neben den genannten greco-lateinischen Begriffen «intrasomatisch», «intersomatisch» und «extrasomatisch» oder «Synnektion» blieb lateinisch die Übersetzung von, beispielsweise, «objetivación» als «Objektivation» oder «Objektivierung» (hier gilt die Tendenz: der Vorgang trägt eher die Endung «-ierung» und das Ergebnis endet eher auf «-ation»), analog auch die Begriffe «Substantivierung» oder «Totalisierung». Auch der Begriff «totalidad» wurde schließlich als Totalität übersetzt anstatt als Ganzheit oder Allheit. Die Termini griechischen Ursprungs (von «Anamorphose» über «gnoseologisch» bis hin zu «Symploké») wurden allesamt in der griechischen Variante (selbstverständlich dem Deutschen angepasst) beibehalten. Siehe hierzu das Glossar im Anhang (auf das mit → Pfeilen verwiesen wird), in dem in eckigen Klammern in [Kursivschrift] jeweils der von Gustavo Bueno verwendete Wortlaut angeführt wird. Bei der Frage, ob Fremdwort oder totale Eindeutschung, sollten keine pauschalen Ablehnungen der einen oder der anderen Lösung vollzogen werden, vielmehr wurden zunächst semantische Unterschiede und Nuancen gesucht; bei nicht klarem Vorhandensein von bedeutungsmäßigen Unterschieden zwischen Fremdwort und deutscher Variante wurde im Einzelfall abgewägt, welches dem Gewohnheits- oder Bekanntheitsgrad des spanischen Wortes eher entspricht.
War die Verwendungsweise eines Terminus in einer nahen Übersetzung im Deutschen nicht akzeptabel (beispielsweise «cultura» in ihrer rein «subjektualen» Bedeutung), so wurde bevorzugt ein klärendes Wort eingefügt (im Beispiel: «[subjektuale] Kultur», anstatt eines alternativen Wortes, wie hier etwa «Bildung»). Gustavo Buenos abwechselnde Benutzung von «objetual» und «objetivo» wurde in «objektual» und «objektiv» beibehalten.
In Fällen, in denen feststehende Ausdrücke «cultura» beinhalten, wie etwa «cultura general», die jedoch recht wenig mit dem deutschen Kulturbegriff zu tun haben, musste zwar der normale deutsche Ausdruck, hier «Allgemeinbildung», verwendet werden, ein Hinweis auf die spanische Verwendung auf «cultura» steht dann aber in Klammern oder in einer Fußnote.
Soweit die Beispiele für terminologische Unterscheidungen, die im deutschen Text beibehalten und je nach Achtsamkeit des Lesers diesem sichtbar bleiben. Nun sei hier ein weiterer Problemterminus angeführt, dessen Übersetzung uns auf philosophische Fragestellungen zurückwirft, die während mehrerer Jahrhunderte geführt wurden: die Benutzung des Adjektivs «universal» durch Gustavo Bueno (v.a. im Vergleich zu «general»). Da das Problem den Rahmen dieser einleitenden Worte sprengt (dies ist ein Punkt, der in der Dissertation der Übersetzerin weiter ausgeführt werden soll), sei hier nur angemerkt, dass der Ausdruck «cultura universal» zwar bei Herder (Kapitel II) als «allgemeine Kultur» übersetzt werden musste, weil dort nur dieser Ausdruck zu finden ist. In den anderen Kontexten dieses Buches wurde jedoch die neutralere Übersetzung als «Universalkultur» dem Original eher gerecht. Denn diese Bezeichnung drückt die Unentschiedenheit besser aus, ob es sich um eine distributive oder vielmehr um eine attributive Totalität handelt. Dagegen musste beispielsweise «espiritu universal» bei Hegel selbstverständlich als «Weltgeist» rückübersetzt werden.
Ein paar Hinweise zu den Zitaten, zu Eigenheiten des Autors und zum Umgang mit ihnen. Zitate deutschsprachiger Autoren wurden im Original gesucht und mit der spanischen Version des Zitats verglichen. Bei wichtigen Abweichungen wurde eine Anmerkung angefügt. In den seltenen Fällen, in denen ein deutsches Zitat nicht auffindbar war, oder bei Anführungen von Textstellen, die aus in anderen Sprachen verfassten Schriften stammen, von denen keine deutsche Übersetzung vorliegt und auch das Original nicht zur Verfügung stand, wurde eine Übersetzung aus dem Spanischen vorgenommen, versehen mit der Abkürzung [ü.S.] (für «übersetzt aus dem Spanischen»).
Es sei darauf hingewiesen, dass Gustavo Bueno gerne die Form «wir» benutzt, wo die meisten Autoren «ich» schreiben. Dies ist wohl (neben Bescheidenheit oder Großzügigkeit) auf seine Einstellung begründet, ein Autor stehe nie allein, sondern nimmt immer auch von anderen Menschen geäußerte Gedanken auf und setzt sich mit ihnen auseinander. Wenn eine erste Person Plural vor einer bibliographischen Angabe in den Fußnoten vorkam, wurde diese Form durch den Namen des Autoren ersetzt; im laufenden Text jedoch wurde diese Eigenheit, vor allem aus stilistischen Gründen, gerne beibehalten.
Noch ein paar Worte zur Syntax: Die Übersetzerin hat sich das Recht herausgenommen, manche im spanischen Original höchst verschachtelten Sätze auf Deutsch in mehreren wiederzugeben. Hierbei war manchmal die Einfügung eines Wortes nötig; in solchen Fällen wurde versucht, entweder ein möglichst neutrales Wort zu finden oder ein schon erwähntes Wort, auf das der Bezug logisch oder notwendig scheint, zu wiederholen.
Das Glossar dieses Buches ist für den deutschsprachigen Leser, der nicht zu anderen Werken des Autors greifen kann, hier um einige Einträge erweitert worden. Diese Neueintragungen wurden zum Teil aus dem Glossar des 5. Bandes von Teoría del cierre categorial (TCC) übernommen (*vorangestellt) und teilweise für diese Übersetzung von Gustavo Bueno neu erstellt (**vorangestellt; auf die Glossareinträge im Anhang dieses Buches verweisen im laufenden Text, wie gesagt: → Pfeile).
Die Übersetzerin hofft, den Erfordernissen des Textes, des Materials, des Autors und des deutschsprachigen Publikums (dasjenige ohne Spanischkenntnisse) einigermaßen gerecht zu werden. Dennoch muss uns allen bewusst sein: Nichts geht über die Lektüre in der Originalsprache.
Danke
Im Besonderen sei ein herzlicher Dank an Dr. Irene M. Weiss gerichtet, die mich durch eine frühe Revision des bilingualen Textkorpus vor manchem Versehen bewahrte und mir bei einigen Formulierungen geholfen hat. Genauso auch an Gabriella Vittiello, die mir dabei half, den deutschen Text sprachlich etwas schöner zu gestalten und einige Unebenheiten zu beseitigen. Dem Autoren Prof. Dr. Gustavo Bueno für die vielen, interessanten Gespräche, in denen er mir große Hilfe bei Problemstellen leistete. An die Fundación Gustavo Bueno in Oviedo; insbesondere Dr. Gustavo Bueno Sánchez, der mir das Projekt vorgeschlagen hat und mir in der Fundación die Benutzung eines Arbeitszimmer mit Computer ermöglicht hat; auch an Sharon Calderón, die den Text formatiert hat. Herrn Professor Dr. Stefan Grätzel danke ich für die Offenheit hinsichtlich des Themas. Neben den bereits genannten danke ich all den Freunden, die punktuell eingesprungen sind, sowie Arancha und Cristina, die mir mein erstes Buch des spanischen Philosophen schenkten. Ich danke allen, die mir Mut zugesprochen haben und mich unterstützten - ganz besonders José Bolívar Cimadevilla und meiner Familie.
Schließlich bin ich dem spanischen Ministerio de Educación y Cultura für die Subvention des Projekts zu großem Dank verpflichtet.
——
{1} Man vergleiche hierzu Ortegas in den Meditaciones del Quijote 1914 (im ersten Satz des an erster Stelle stehenden Abschnittes «Lector») ausgedrückte Überzeugung von der Notlage der Philosophie in Spanien, insofern Ortega sich selbst als einen Philosophieprofessor «in partibus infidelium» betrachtete. José Ortega y Gasset: Meditaciones del Quijote. Herausgegeben von Julián Marías. Madrid: Cátedra, 1990. S. 43.
{2} Javier San Martín: Teoría de la cultura. Madrid: Editorial Síntesis, 1999. Das gesamte erste Kapitel des selbsternannten Phänomenologen führt (oft aus dem Zusammenhang gerissene) Zitate von Gustavo Bueno an, v.a. aus El mito de la cultura, teilweise aber auch aus Etnología y utopía. Während im zweiten Kapitel auf allein 5 Seiten die Gedanken zur Kultur bei Husserl, 14 Seiten bei Ortega und 22 Seiten bei Heidegger behandelt werden, widmet der Autor im Abschnitt 1. 4 (S. 64-113) 49 Seiten ausschließlich den Thesen Gustavo Buenos, jedoch ohne dass dies (wie bei jenen) aus dem Inhaltsverzeichnis ersichtlich wäre.
{3} [ü.S. = übersetzt aus dem Spanischen] José Ferrater Mora: Diccionario de Filosofía. Bd. 1. Madrid: Alianza Ediciones, 19766. S. 405.
{4} [ü.S.] François Aubral: Los Filósofos (Übersetzung von José Manuel Revuelta). Madrid: Acento Editorial 1993. S. 22.
{5} Das Zitat führt fort: «Seine Hauptwerke sind: El papel de la filosofía en el conjunto del saber (1970), Etnología y utopía (1971), Ensayo sobre las categorías de la economía política (1972), Ensayos materialistas (1972), La metafísica presocrática (1974).»
{6} Siehe unten «spiritualistisch», besonders MK II S. 106.
{7} Gustavo Bueno: Ensayos materialistas. Madrid: Taurus, 1972. Besonders: «Ensayo II. Doctrina de los tres géneros de materialidad» S. 26-360, «Ensayo III. ‹Symploké› empírica» S. 361-370 und «Ensayo V. ‹Symploké› dialéctica» S. 391-434.
{8} Aus dem «Prólogo» zu El sentido de la vida. Seis Lecturas de filosofía moral. Oviedo: Pentalfa, 1996. S. 11. Um eine «genialistische» Interpretation zu vermeiden, sei angemerkt: Die genannte Fähigkeit zur Wirklichkeitsanalyse» leitet sich vor allem aus der Hinwendung und Widmung ab, das heißt nur zu einem verschwindenden Anteil von angeborenen Dispositionen. Für die Fähigkeit zur besagten «Wirklichkeitsanalyse» ist eine breite Bildung notwendig, kombiniert mit der Bereitschaft, sich kritisch mit solchen Themen zu beschäftigen. Angesichts der Komplexität der Materie bedarf dies der Verfügung über viel Zeit - und diese Zeit wird normalerweise in rentablere Tätigkeiten investiert.
{9} Der Titel hieß auf Deutsch so: Ethnologie und Utopie. Antwort auf die Frage: Was ist die Ethnologie? (Das spanische Buch erschien in Oviedo: Azanca, 1971, 1987).
{10} [Wir und sie. Essay zur Rekonstruktion der Unterscheidung zwischen emic und etic von Pike] (Oviedo: Pentalfa Ediciones, 1990).
{11} [Was ist Philosophie? Der Rang der Philosophie in der Bildung. Die Rolle der Philosophie in der Gesamtheit des Wissens, bestehend aus dem politischen, dem wissenschaftlichen und dem religiösen Wissen unserer Epoche] (Oviedo: Pentalfa Ediciones, 1995).
{12} [Der Sinn des Leben. Sechs Lektüren zur Moralphilosophie] (Oviedo: Pentalfa Ediciones, 1996).
{13} [Das göttliche Tier. Essay einer materialistischen Religionsphilosophie] (Oviedo: Pentalfa Ediciones, 1985, 1996).
{14} [Die Theorie des kategorialen Abschlusses] (Oviedo: Pentalfa, 1992-1993).
{15} [Fernsehen: Schein und Wahrheit] (Barcelona: Gedisa, 2000).
{16} “Ganzes/Teil” und “Holismus” in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1990. Bd. 2, S. 219-231 und 552-559. «Materie» und «Naturwissenschaften» in: ebd. Bd. 3, S. 281-308 und 533-545.
{17} In: Volker Rühle (Hrsg.): Beiträge zur Philosophie aus Spanien. Übersetzt von Ruth Zimmerling. Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 1992. S. 55-92.
{18} Wie angemerkt, ist das Kapitel IV größtenteils ontologisch-praktisch.
{19} Gotthold Ephraim Lessing übersetzte Johann Huarts / Prüfung der Köpfe / zu den / Wissenschaften / Worinne er die / verschiedenen Fähigkeiten / die in den Menschen liegen / zeigt / Einer jeden den / Theil der Gelehrsamkeit bestimmt / der für sie eigentlich gehöret / Und endlich / den Aeltern Anschläge ertheilt / wie sie / fähige und zu den / Wissenschaften ausgelegte Söhne / erhalten können / Aus dem Spanischen übersetzt / von / Gotthold Ephraim Lessing. Zerbst: Zimmermannische Buchhandlung, 1752. Zitiert nach dem in Martin Franzbachs La traducción de Huarte por Lessing (Pamplona: Institución Príncipe de Viana, 1978) abgedruckten Titelseite der Übersetzung Lessings.
{20} Arthur Schopenhauer übersetzte Gracians Handorakel. Die Kunst der Weltklugheit in dreihundert Lebensregeln. Deutsch von Arthur Schopenhauer. Wien: Neff, 1970.